© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    05/98  23. Januar 1998

 
 
Lebensschutz: Ungeborene können unbürokratisch getötet werden
Kinder an die Macht
von Gerhard Quast / Tobias Berg

Acht Monate vor der Bundestagswahl ist Bundeskanzler Kohl mit einem Gegner konfrontiert, bei dem selbst das Bonner Schwergewicht ins Schwitzen zu geraten droht: Papst Johannes Paul II. Der Schlagabtausch mit dem Oberhaupt der katholischen Kirche dürfte jedenfalls für Kohl eine ungleich größere Herausforderung werden als die Differenzen mit seiner Familienministerin Claudia Nolte, die er kurzerhand zur Räson gerufen hat.

Denn was der 31jährigen Ministerin mit ihrem Vorstoß zur Überprüfung der geltenden Abtreibungsregelung nicht gelungen ist, könnte der Papst in den nächsten Tagen mit einer Anweisung an die katholischen Bischöfe in Deutschland im Handumdrehen zu einem für den Kanzler unerwünschten Ende führen: die Infragestellung der 1994 in zähen Verhandlungen ausgehandelten gesetzlichen Neuregelung des Abtreibungsparagraphen. Sollte das Oberhaupt der katholischen Kirche in der päpstlichen Anweisung – wie zu erwarten – den völligen Rückzug aus der in dem Gesetz vorgesehenen Beratung anordnen, würde das Beratungssystem zusammenbrechen und die gesamte Regelung zum Paragraphen 218 in Frage gestellt.

Derzeit unterhält die Kirche rund 260 katholische Beratungsstellen, denen es nach dem Willen der Deutschen Bischofskonferenz nicht nur gestattet ist, die Schwangeren zu beraten, sondern auch den für einen straffreien Schwangerschaftsabbruch erforderlichen Beratungsschein auszustellen. Diese Praxis, daß kirchliche Stellen durch die Scheinvergabe einen nach dem Gesetz – und erst recht nach den Prinzipien der katholischen Kirche – rechtswidrigen Schwangerschaftsabbruch zu einer straffreien Tat machen, war in Rom von Anfang an umstritten. Angezweifelt wird in Rom außerdem, daß durch einen solchen Einstieg in die straffreie Abtreibung Leben gerettet werden können.

Sollte die derzeitige Praxis durch die päpstliche Weisung beendet werden, müßten im Freistaat Bayern drei von vier Beratungsstellen ihre Tätigkeit beenden. Angesichts dieser "Gefahren" ist schon im Vorfeld der erwarteten Anweisung bei Politikern ein Gezeter zu vernehmen. Die Bischofskonferenz solle die Schwangerschaftsberatung im Rahmen des staatlichen Systems – also einschließlich Scheinvergabe – weiterführen und sich nötigenfalls dem Papst "widersetzen", empfahl die Grünen-Politikerin Christa Nickels. Und auch die stellvertretende Vorsitzende der CDU-Frauen-Union, Doris Pack, stieß ins gleiche Horn und sprach davon, die Bischöfe müßten sich "widersetzen".

Daß die Beratung eben nicht zu dem gewünschten Erfolg und schlußendlich zu weniger Abtreibungen geführt habe, zeigen die Abtreibungszahlen: Die statistisch erfaßten Abtreibungen stiegen im Jahr 1996 um ein Drittel auf 130.899. Im ersten Halbjahr 1997 gab es mit 68.170 erneut einen Anstieg der Zahlen. Diese Zunahme könne allein mit der genaueren Erfassung nicht erklärt werden, hatte Claudia Nolte ihren Vorstoß begründet.

Das Unrecht der Abtreibungen weise auf einen "ethischen Orientierungsverlust" hin, kritisierte Hartmut Steeb, Geschäftsfüher der deutschen Evangelischen Allianz. Auch der Arbeitskreis "Christen und Ökologie" übte scharfe Kritik. Für vorgeburtliche Kindstötungen sei die "kinder- und familienfeindliche Politik der Bundesregierung" in erheblichem Maß mitverantwortlich.

(Lesen Sie hierzu das Interview Seite 3)


 
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