© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    05/98  23. Januar 1998

 
 
Lebensschutz: Johanna Gräfin von Westphalen über die gegenwärtige Abtreibungsdiskussion
"Das Gesetz ist frauenfeindlich"
von Gerhard Quast

Gräfin von Westphalen, steigende Abtreibungszahlen, aber insbesondere das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes (BVG), ein Kind sei faktisch als Schadensfall anzusehen, haben den Abtreibungsparagraphen erneut in die Diskussion gebracht. Wie bewerten Sie diese Vorgänge?

WESTPHALEN: Ministerin Claudia Nolte hat natürlich völlig recht, das gegenwärtige Abtreibungsgesetz in Frage zu stellen, denn die Zahlen sind nicht zurückgegangen. Es gab zwar ein erhebliches Meldedefizit, daher weiß man den Anstieg nicht genau, aber daß die Abtreibungszahlen angestiegen sind, darüber kann kein Zweifel bestehen. Deshalb ist es die Pflicht der Regierung oder eines Ministers, darauf hinzuweisen und eine Gesetzesnachbesserung zu fordern. Frau Nolte hat im Prinzip nur ihre Pflicht getan, denn das BVG hat 1993 gesagt, daß – wenn die Beratungsregelung nicht greift – nachgebessert werden müsse. Das von Ihnen erwähnte Urteil ist natürlich völlig grotesk, denn das Gericht müßte im Interesse der Menschen – in diesem Falle: der Ungeborenen – und nach dem Gesetz Recht sprechen. Denn selbst das BVG hat 1993 gesagt, daß auch der ungeborene Mensch nach Artikel 2 des Grundgesetzes ein Recht auf Leben hat. Das "Schadensfall"-Urteil stellt das deutsche Recht auf den Kopf.

Besteht die Gefahr, daß nach diesem Urteil die Abtreibungen zunehmen?

WESTPHALEN: Ja, natürlich. Ich befürchte, daß jetzt die Ärzte, um sich den Rücken freizuhalten, oder aus Angst, daß sie regreßpflichtig werden könnten, den Frauen vermehrt zu Abtreibungen raten, wenn auch nur der Schatten einer Vermutung besteht, daß das Kind geschädigt sein könnte.

Ein weiterer Vorgang hat in den letzten Wochen die Gemüter erregt: die "mißlungene" Abtreibung eines schwerbehinderten Kindes, das die Abtreibung überlebte. Ärzte fordern jetzt, Abtreibungen nach der 20. Woche nicht mehr zuzulassen. Sie sagen, dieses "Unrechtsgesetz" in seiner jetzigen Fassung und seine Auslegung seien grundsätzlich in Frage zu stellen. Heißt das, daß der Gesetzgeber erneut gefordert ist?

WESTPHALEN: Es muß tatsächlich ein neues Gesetz her. Mit einer Nachbesserung ist es nach unserer Meinung überhaupt nicht getan, denn auch ein 20 Wochen altes ungeborenes Kind hat ein Recht auf Leben. Die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens ist aber nicht mehr gegeben, wenn die Mütter entscheiden dürfen, ob das Kind leben soll oder nicht, wie im Falle der Fristensetzung. Und bei der medizinischen Indikation können die eugenischen Fälle ohne zeitliche Einschränkung dem Tod anheimgestellt werden. Selbst eine Fristsetzung ändert ja im Grunde nichts an dem Prinzip, daß auch der behinderte Mensch – egal, in welchem Alter – ein Recht auf Leben hat. Bei jeder dritten "Abtreibung" nach der 20. Woche – sie werden eigentlich richtig zur Welt gebracht – leben die Kinder noch. Ich habe die Befürchtung, daß die schreckliche Erfahrung mit dem Oldenburger Baby lediglich dazu führen wird, daß die Babies künftig noch im Mutterleib mit einer Spritze getötet werden, damit sie nicht lebend zur Welt kommen. Das ist wie in einem Horrorfilm.

Die Fristenregelung und die medizinische Indikation widersprechen also dem Recht des Ungeborenen auf Leben?

WESTPHALEN: Ja, ganz eindeutig. Daran kann es keinen Zweifel geben.

Wie müßte eine Neufassung des Gesetzes aussehen?

WESTPHALEN: Der Paragraph 218 muß grundsätzlich vorgeburtliche Kindstötung unter Strafe stellen. Im Prinzip tut dies auch das derzeitige Gesetz, hebt die Unterstrafestellung aber dann sofort wieder auf durch die Beratungsregelung. Der Frau wird die Letztentscheidung zugeschoben. Das heißt ja nicht nur, daß die Frau entscheiden darf, sondern das heißt auch, daß der abtreibende Arzt straffrei bleibt. Das Ganze ist sogar aus der Straftatbestandsmäßigkeit herausgenommen.

Ministerin Nolte mußte sich für ihre Infragestellung des Gesetzes den Vorwurf anhören, ihre Äußerungen seien "frauenfeindlich". Ein schwerwiegender Vorwurf…

WESTPHALEN: …ein ganz durchsichtiger Vorwurf! Frauen haben genauso viel zu sagen, oder nicht zu sagen, wie jeder Mann. Gerade im Fall der ungeborenen Kinder hat man ihnen die alleinige Verantwortung übergeben. Sie haben auch die alleinige Entscheidung, denn die Väter haben gar nichts mehr zu sagen. Der Vater trägt in dieser Frage keinerlei Verantwortung. Es ist einfach grotesk zu sagen, es sei "frauenfeindlich", als ob die Entscheidung zum Töten von ungeborenen Kindern jemals frauenfreundlich sein könnte. Aber das sagen natürlich die, die dieses Gesetz mit aller Macht durchgesetzt haben. Frau Süßmuth etwa, die den Rechtsfrieden bedroht sieht durch die kritischen Stimmen gegen das geltende Abtreibungsgesetz, das erwiesenermaßen dem Lebensschutz entgegensteht. Eigentlich ist dieses Gesetz frauenfeindlich, denn es setzt die Frauen dem brutalen Druck derer aus, die die Kinder nicht haben wollen. Dieses Gesetz ist zutiefst mütterfeindlich! Eine Frau, die gegen alle Widerstände ein Kind haben oder gegen alle Unwägbarkeiten ihr Kind austragen möchte, die ist heute allein und hat alle Verantwortung und auch alle Folgen später zu tragen.

"Das sind für mich Schlächter, die vom Bundesgesetzgeber zum Töten autorisiert wurden"

Wird die öffentlich geführte Diskussion in Ausschüssen versanden oder Konsequenzen haben?

WESTPHALEN: Viele Politiker erhoffen sich natürlich, daß die Diskussion bald wieder einschläft, aber sie wird nicht versanden, sie wird weitergehen, solange diese furchtbaren Ungerechtigkeiten bestehen. So, wie das Ganze jetzt gehandhabt wird, kann es keinen Rechtsfrieden geben.

Zwischen dem Vatikan und den katholischen Bischöfen gibt es Unstimmigkeiten über die Beratungstätigkeit in Sachen Abtreibung. Halten Sie die Fundamentalposition des Papstes für sinnvoll oder ist es nicht besser, daß werdende Mütter durch katholische Institutionen beraten werden, statt von "pro familia"?

WESTPHALEN: Aus der Sicht der katholischen Kirche ist es ganz unmöglich, etwas Gutes durch Schlechtes erreichen zu wollen. Die Beratung, die eigentlich etwas Gutes sein kann, gewährt der Frau aber auch mittels Bescheinigung, ihr Kind töten zu lassen. Also muß die Kirche irgendwann – es ist höchste Zeit! – sagen, daran können wir uns nicht beteiligen, selbst wenn wir tatsächlich nicht mehr alle abtreibungswilligen Frauen erreichen. Auch kirchliche Beraterinnen sind verpflichtet, Scheine auszustellen, selbst wenn sie das Gefühl haben, daß die Beratung keinen Effekt hatte. Auch wenn sie es nicht wollen, der Schein ebnet den Weg zu einer späteren Tötungshandlung. Das halte ich für ganz katastrophal.

Die Kirche sollte sich also zurückziehen?

WESTPHALEN: Nein, sie soll natürlich weiter beraten, aber sie muß auf das Ausstellen dieser Scheine verzichten.

Das BVG hat unter anderem mit dem "Soldaten sind Mörder"-Urteil für Unmut gesorgt. Kürzlich wurde ein Theologe gerichtlich belangt, weil er einem Gynäkologen, der im Nürnberger Klinikum Nord eine ambulante Abtreibungspraxis betreibt, "Kindermord" vorgeworfen hat. Dieser hatte sich über die Aggressivität des Protestes beklagt. Wie verkehrt ist die deutsche Rechtssprechung?

WESTPHALEN: Ich finde es furchtbar, daß es in Deutschland Gerichte gibt, die nicht mehr objektiv Recht sprechen. Das ist aber auch eine Folge des Gesetzes. Das Nürnberger Gericht verurteilt den, der für das Grundrecht auf Leben demonstriert, während die Karlsruher Richter den Fließbandabtreibern in Bayern den Rücken freihalten!

Allein zwei Nürnberger Abtreibungsärzte führen jährlich 5.600 Abtreibungen durch – jeder im Durchschnitt sieben bis acht Abtreibungen täglich. Was halten Sie von solchen Ärzten?

WESTPHALEN: Das sind für mich Schlächter, die vom Bundesgesetzgeber zum Töten autorisiert wurden. Das geht so weit, daß der Freistaat Bayern beziehungsweise die Sozialministerin Stamm gerichtlich dazu verpflichtet wurde, diese Leute weiter praktizieren zu lassen und gleichzeitig nach Paragraph 13 des neuen Schwangerschaftskonfliktgesetzes dafür sorgen muß, daß genügend Ärzte da sind, die Abtreibungen durchführen.

Sie erinnert dies "an die finstersten Zeiten der deutschen Geschichte". Ist ein solcher Vergleich mit dem Massenmord an den Juden wirklich erforderlich?

WESTPHALEN: Im Dritten Reich wurden auch behinderte Kranke, "unproduktive" Menschen, vernichtet. Aus den Verbrechen dieser Zeit haben die Väter des Grundgesetzes die Konsequenz gezogen. Doch Sie sehen, wie trotz garantierter Grundrechte heute wieder wehrlose Menschen vom staatlichen Schutz ausgenommen sind. Ich glaube, daß dieser Vergleich immer wieder gezogen werden sollte, damit wir endlich innehalten und diesen Wahnsinn stoppen.

Abtreibungen hat es immer gegeben, und weltweit werden nach UN-Angaben jährlich 40 Millionen Kinder getötet. Es ist also nicht nur ein Problem unserer Zeit und nicht nur der Deutschen.

WESTPHALEN: Natürlich hat es Abtreibungen immer gegeben, aber nicht in diesem Ausmaß. Es gibt heute starke ideologische Hintergründe, die weltweit wirken. Ich denke da an die "International Planned Parent-hood Federation" – in Deutschland: "pro familia" –, die Abtreibung als Mittel der Familienplanung einsetzt.

Ministerin Nolte hat angekündigt, das Bundesverfassungsgericht anzurufen. Sehen Sie Chancen, daß es zu einer Revision des Gesetzes kommt, oder wird sie eine Bauchlandung erleben?

WESTPHALEN: Jetzt ist erst einmal Wahljahr. Deshalb wird 1998 in dieser Hinsicht nicht viel passieren. Ich bin überzeugt, daß über kurz oder lang das Gesetz vor das BVG kommen wird und wieder beim Gesetzgeber landet. Die derzeitige Regelung paßt nicht in unser rechtstaatliches Gefüge. Also wird es zu einer Korrektur kommen müssen.


 
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