© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    07/98  06. Februar 1998

 
 
Historikerstreit in Israel: Die Vertreibung der Palästinenser - ein verdrängtes Thema
"Gläubige, rettet eure Seelen!"
von Kenneth Lewan

In den achtziger Jahren wurden israelische Archive, die die Zeit vor, während und nach 1948 betreffen, der Forschung weitgehend zugängig gemacht. Unter israelischen Forschern, mittlerweile auch unter Beteiligung ausländischer Historiker, ist inzwischen ein Streit über die Frage entstanden, warum fast das ganze palästinensische Volk (etwa 750.000 Menschen) aus seiner Heimat geflüchtet ist. Die israelische Regierung erklärte 1953 in einer Broschüre, daß die Flucht eine Folge von ausdrücklichen über den Rundfunk ausgestrahlten Anweisungen der arabischen Führung war. Ben Gurion sagte 1961 vor der Knesset: "Wir haben ausführliche Dokumente, die bezeugen, daß sie auf Anweisung ihrer arabischen Führung Palästina verlassen haben, weil sie annahmen, daß der Einmarsch der arabischen Armeen bei Auslauf der Mandatszeit den jüdischen Staat vernichten und alle Juden ins Meer treiben würde, tot oder lebendig." Das Gleiche wurde immer wieder von Israelis und ihren Unterstützern in der UNO und anderen Orts behauptet. Damit wurden Rückkehr und Entschädigung der Flüchtlinge abgelehnt; sie wären ja selbst für ihr Schicksal verantwortlich.

Die "neuen Historiker" Benny Morris und Simcha Flapan haben die zahlreichen Dokumente in den israelischen, britischen und amerikanischen Archiven getrennt voneinander untersucht und keinen Beleg für Aufforderungen von arabischer Seite zur Flucht aus Palästina gefunden. Morris und Flapan stellten weiterhin fest, daß die arabischen Führer die Bevölkerung wiederholt aufgefordert hatten, zu bleiben bzw. zurückzukehren. Ilan Pappé bestätigte diesen Befund mit einem Hinweis auf Untersuchungsergebnisse von Erskine Childers, einem Iren, und Walid Khalidi, einem Palästinenser, die sie schon in den frühen sechziger Jahren veröffentlicht hatten. Sie überprüften die Mitschnitte der BBC und der CIA von damaligen arabischen Rundfunksendungen und kamen zu dem gleichen Ergebnis wie Morris und Flapan. Trotz der Erkenntnisse der "neuen Historiker" haben der Historiker Shabtai Teveth, Yitzhak Rabin und andere wichtige Israelis die Behauptung wiederholt, daß das palästinensische Flüchtlingsproblem durch einen arabischen Befehl, Palästina zu verlassen, verursacht worden sei.

Wie erklären nun die "neuen Historiker" die Flucht der palästinensischen Araber? Sie stellen eine Reihe von Ursachen für die Flucht fest, die von Zeit zu Zeit und von Ort zu Ort von verschiedenem Gewicht waren. Die Hauptursachen finden sie in Maßnahmen der jüdischen Seite, vor allem Angriffen der jüdischen Streitkräfte auf arabische Siedlungen. Erst durch solche Angriffe, gewöhnlich mit Mörserfeuer, begannen die Araber ihre Stadtteile oder Dörfer in großen Zahlen zu verlassen. Selbst nach Angaben des Nachrichtendienstes der israelischen Armee waren 70 Prozent der Flucht auf Angriffe der jüdischen Streitkräfte zurückzuführen, davon 15 Prozent durch Angriffe der Terrorverbände Irgun und Stern.

Nach Feststellungen von Morris und Flapan waren Greueltaten eine wichtige Ursache für Furcht und Flucht. Das Rote Kreuz und britische Beobachter bestätigten, daß in Deir Jassin die Terrorverbände Irgun und Stern 250 Männer, Frauen und Kinder an die Wand gestellt und erschossen hatten. Es wird vermutet, daß das Blutbad in Deir Jassin die Fluchtbereitschaft der arabischen Bewohner von Jaffa und Haifa anheizte. Zeugenaussagen von Flüchtlingen bestätigen, daß die Nachrichten über Greueltaten den Widerstandswillen stark beeinträchtigten und sie zur Flucht trieben. Ein israelischer Soldat bezeugte, daß Duweima ohne Kampf erobert wurde. Darauf wurden 80-100 Männer, Frauen und Kinder getötet. "Die Kinder wurden durch Stockhiebe auf den Kopf getötet. Ein Kamerad brüstete sich damit, eine Frau vergewaltigt und dann erschossen zu haben. Eine Frau mit einem Säugling mußte den Hof sauber halten, wo die Soldaten ihr Essen einnahmen. Sie arbeitete ein oder zwei Tage und wurde dann zusammen mit ihrem Kind getötet." Der Historiker der Haganah, Aryeh Jitzhaki, berichtet, daß jüdische Soldaten viele Häuser voller arabischer Bewohner in die Luft sprengten. Israel Galili, der Führer der Haganah-Armee, berichtet von "einigen" Greueltaten, die im Oktober 1948 passierten. In Safsaf: "52 gefesselte Männer wurden in einen Brunnen geworfen, und dann wurde auf sie geschossen. 10 wurden getötet. Es gab drei Fälle von Vergewaltigung, darunter ein vierzehnjähriges Mädchen." In Sa’sa: "Fälle von Massenmord." In Saliha: "94 Bewohner eines Hauses wurden in die Luft gesprengt." Britische Beobachter berichteten am 22. April 1948 in Haifa, daß die Haganah "fortwährend auf alle Araber schoß, die sich in Wadi Nisnas und der Altstadt auf der Straße zeigten. Dies schloß vollkommen willkürliches Machinengewehrfeuer und Scharfschützenfeuer auf Frauen und Kinder ein, die versuchten, durch die Tore Haifas in den Hafen zu gelangen. Außerhalb des Osttors zum Hafen gab es ein großes Gedränge von hysterischen und verängstigten arabischen Frauen, Kindern und alten Leuten. Die Juden eröffneten gnadenlos das Feuer auf sie." In Ein az Zeïtun wurden etwa 70 arabische Gefangene durch israelische Soldaten getötet. Morris hat das höchste Gericht Israels aufgefordert, eine Anzahl von Archiven über Greueltaten zugängig zu machen, aber sein Antrag wurde abgelehnt.

Auch psychologische Kriegsführung wird von den "neuen Historikern" als Ursache erwähnt. Ein Hagana-Offizier berichtete davon, daß jüdische Soldaten in Haifa mit Lautsprecherwagen durch die Straßen fuhren und Schallplatten mit Schreckensgeräuschen abspielten – Schreie, Jammern und schmerzvolles Stöhnen von Frauenstimmen, das Heulen von Sirenen und den Klang von Feueralarmglocken. Dazu eine Grabesstimme auf arabisch: "Gläubige, rettet eure Seelen! Flieht um euer Leben!" Auch Drohungen waren zu hören, daß Giftgas und Atombomben gegen die Araber eingesetzt werden sollten.

Einen bedeutenden Teil der Flucht führt Morris darauf zurück, daß Menschen die Pistole auf die Brust gesetzt wurde. Das geschah in aller Regel, wo Angriffe auf Siedlungen, psychologische Kriegsführung oder andere Maßnahmen von der jüdischen Seite, wie etwa die Unterbrechung von Lebensmittellieferungen und das Verwüsten von Ernten, nicht zur Flucht führten. Allein in Lydda und Ramle handelte es sich um 50.000 bis 70.000 Menschen, einschließlich Flüchtlingen aus Jaffa.

Wegen der Schießereien und der Bombenattentate in den ersten Monaten nach Bekanntmachung des Teilungsbeschlusses hatten viele bessergestellte Araber Palästina verlassen, um sich in Sicherheit zu bringen. Manche schätzen die Zahl auf 30.000, Morris meint, es wären 75.000 gewesen. Die Flucht dieser Führungskräfte mag den Widerstandswillen der Zurückgebliebenen geschwächt haben. Hinzu kommt, daß die palästinensischen Araber nicht in der Lage waren, sich militärisch mit den Juden zu messen. Nur 3.000 Palästinenser folgten dem Ruf zu den Waffen, dazu kamen höchstens 5.000 Freiwillige aus arabischen Ländern. Sie standen 35.000 Hagana-Kämpfern gegenüber. Den Palästinensern fehlte es an Ausbildung, Waffen, technischem Wissen und einer fähigen Führung. Die Juden hatten schon in der Mandatszeit eine gut ausgebildete Armee. Die Bedeutung der arabischen Armeen, die im Mai 1948 in Palästina einmarschierten, werde ich später behandeln.

Flapan und der amerikanische Historiker Finkelstein heben hervor, daß die Vertreibung nicht damit erklärt werden kann, daß die Zionisten den im Teilungsplan vorgesehenen Judenstaat sicherstellen wollten. Die Palästinenser waren gar nicht in der Lage, die Teilung zu verhindern. Wie oben erwähnt, konnte der palästinensische Führer, der Mufti von Jerusalem, nur wenige Kämpfer gewinnen, und sie standen einer in Umfang, Ausbildung und Ausrüstung wesentlich besser vorbereiteten Hagana-Truppe gegenüber. Im Januar 1948 berichtete der jüdische Arabien-Kenner Ezra Danin, daß "die Mehrheit der palästinensischen Massen die Teilung als fait accompli akzeptiert und nicht an die Möglichkeit glaubt, sie verhindern oder überwinden zu können." Ben Gurion teilte diese Meinung. 1936 hatten sich die Palästinenser massenhaft an dem Aufstand gegen die Überfremdung durch jüdische Einwanderer beteiligt. Der Aufstand wurde von Briten und Juden mit hohem Verlust an Menschenleben auf palästinensischer Seite niedergeschlagen, so daß der Widerstandswille auf lange Zeit gebrochen schien.

Bezüglich der Sicherheit Israels gegenüber den arabischen Staaten, die nach der Ausrufung des Staates Israel in Palästina einmarschierten, weist Flapan darauf hin, daß Transjordanien, das die kampffähigsten arabischen Truppen besaß, dem Teilungsplan öffentlich zugestimmt hatte. Die anderen arabischen Staaten lehnten den Plan in der Öffentlichkeit ab, stimmten ihm aber – laut Protokoll – in Geheimgesprächen mit der jüdischen Führung zu. Sie sollen nur einige Grenzänderungen gefordert haben. Sie wußten, daß sie sich wegen ihrer Rückständigkeit nicht mit den Juden hätten messen können. Die arabischen Staaten seien nicht einmarschiert, um Israel zu zerstören. Der englische General Glubb, der die jordanischen Truppen führte, hatte Anweisungen von der englischen und der jordanischen Regierung, nicht in "jüdisches Gebiet" vorzudringen. Auffallend ist, daß die arabischen Staaten während der ganzen Kampfhandlungen nicht in "jüdisches Gebiet" eindrangen. Nach der Flucht von mehr als 300.000 Palästinensern waren die arabischen Staaten unter starkem Druck von ihren Bevölkerungen, zumal befürchtet wurde, daß diese schrecklichen Ereignisse sich noch ausweiten würden. Eine Aussage von Yigal Allon, einem führenden jüdischen Militär, bestätigt die Berechtigung dieser Ängste: "Wenn die arabischen Armeen nicht einmarschiert wären, hätte unsere Armee die natürlichen Grenzen vom westlichen Israel (den Jordan, K.L.) erreicht."

Flapan, Finkelstein u.a. erklären die Vertreibung der Palästinenser auf der Grundlage der langbestehenden zionistischen Ideologie. Das Ziel der zionistischen Bewegung war, einen weitgehend rein jüdischen Staat in ganz Palästina zu schaffen, d. h. einen Staat mit möglichst wenigen arabischen Bewohnern. Dazu sollte der Boden in jüdisches Eigentum gelangen. Dieses Ziel setzte eine Verdrängung der palästinensischen Araber voraus, sei es mit friedlichen Mitteln oder Gewalt. Diesen Gedankengang erhellt die Tatsache, daß schon Theodor Herzl, der die Bewegung jahrelang führte, die Meinung vertrat, daß die Araber über die Grenze in Nachbarländer gedrängt werden sollten, nachdem sie die gröbste Kolonisierungsarbeit für den Judenstaat geleistet hätten. Bei verschiedenen Treffen führender Mitglieder der zionistischen Arbeiterpartei zwischen 1930 und 1937 wurde diese Zielsetzung zustimmend erörtert. Chaim Weizmann, der die Bewegung auch jahrelang führte und der erste Präsident des Staates Israel wurde, forderte England 1937 auf, die palästinensischen Araber auszusiedeln. 1943 bot er König Ibn Saud 20 Millionen Pfund für die Aufnahme der arabischen Bewohner Palästinas an. Ben Gurion sagte 1938 auf einer Sitzung seiner Partei: "Ich bin für die zwangsweise Aussiedlung. Ich sehe nichts Unmoralisches darin."


 
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