© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    08/98 13. Februar 1998

 
 
Deutsche Revolutionen: 1848 verlangte ein Volk nach Einheit, sozialer und politischer Selbstbestimmung
Die Freiheit steht auf dem Spiel
von Achim T. Volz

Das Jahr 1998 ist das Jubiläumsjahr der deutschen Revolutionen. Der deutsche Revolutionsreigen beginnt schon in den nächsten Wochen am 18. März mit dem 150. Jahrestag der Revolution von 1848 und endet am 9. November mit der 80. Wiederkehr der Novemberrevolution von 1918. Der 9. November wiederum wurde in unserem Jahrhundert zu einem nationalpolitisch besonders bedeutungsträchtigen Datum. Es ist der Tag, an dem Scheidemann 1918 die Republik ausruft, Hitler 1923 seinen Münchner Putschversuch unternimmt und 1938 den Terror gegen jüdische Staatsbürger organisieren läßt. Andererseits fällt auf diesen offenbar "deutschesten" aller Jahrestage die 1989 erfolgte Öffnung der Berliner Mauergrenze. Dies war ein Vorgang, dessen symbolische Bedeutung nicht hoch genug zu bewerten ist: er zeigte nichts Geringeres an als das Ende der Nachkriegsordnung. Ost-West-Spaltung und Kalter Krieg waren nicht länger aufrechtzuerhalten.

Wer aber weiß, daß auch das 19. Jahrhundert einen "deutschen" 9. November von höchster politischer Symbolik kennt? Es ist der Tag, an dem im Wien des Revolutionsjahres 1848, diesem wahrhaft "tollen Jahr", der Kölner Republikaner Robert Blum, allseits geachtetes Mitglied der Nationalversammlung, des Frankfurter Paulskirchen-Parlaments, hingerichtet wurde, ungeachtet seiner Immunität als Abgeordneter.

Auch von Blum wird die Rede sein, wenn die Kulturverweser vieler europäischer Länder heuer an die 1848er Revolution erinnern: "Erbe und Auftrag" wird es heißen, oder gar: "Die Wurzeln unserer Demokratie". Mag sein, doch die Erfahrung mit der speziell bundesdeutschen Gedenkkultur läßt es erneut zu höchst selektivem Gedenken kommen. Die 1848er Revolution und ihre vielfältig gebrochene Vorgeschichte – sie eignen sich am wenigsten für jene holzschnittartigen Klitterungen, die als "volkspädagogisch wünschenswert" (Golo Mann) just unter Kohl-Genscher epidemisch geworden sind. 1998 stehen gewiß vielerlei Versuche ins Haus, zu einer Verbiedermeirung bzw. "Historisierung" des 1848er Ereigniskomplexes zu kommen; dennoch sollte die Hoffnung erlaubt sein, der geballte Medienschwall möge nicht so totalisierend wirken, daß die Sonntagsreden des Euro-Establishments auf tote Revolutionäre deren Motive, Ideale und unabgegoltene Forderungen dem völligen Vergessen anheim fallen ließen.

Auf den Barrikaden in Berlin und Wien zündete sozialer Sprengstoff

1848 war die erste politische Massenbewegung von nahezu gesamteuropäischer Dimension; für ihr Zustandekommen war ein ganzes Bündel sozialer, politischer, wirtschaftlicher und geistig-kultureller Faktoren notwendig, die von Land zu Land verschiedenartig zur Wirkung gelangten.

Sollte man das allen Gemeinsame nennen, wären dies wohl das Verlangen nach wirtschaftlicher Existenzsicherung, nach politischer Mitwirkung an allen Entscheidungen, die das Gemeinwohl betreffen, nach Beseitigung unhaltbarer Privilegien, der Ruf nach Rechtsstaatlichkeit und der Beseitigung krasser gesellschaftlicher Ungleichheit, der Wille zu nationaler Einheit und Selbstbestimmung.

Bei den Barrikadenkämpfen in Paris, Wien und Berlin zündete der soziale Sprengstoff im Gefolge der frühen Industrialisierungsphase; den großen und kleinen Bürgern hingegen ging es um Zolleinheit, Handelsfreiheit, Bugdet-Kontrolle, Einfluß auf die staatliche Gesetzgebung, aber durchaus auch um die "Pressefreiheit". In Deutschland und Italien stand die Formierung nationaler Identität auf der Tagesordnung; dies wurde in Form mythologischer bzw. geschichtsphilosopischer Herkunftserzählungen ("Arminius"), in Denkmalsbau und universitär angeleiteter Sinnstiftung ("Germanistik") geleistet.

Die deutsche Sonderfrage aber hieß: groß- oder kleindeutsch? Ein Reich aller Deutschen – mit oder ohne Österreich? Mit einem Habsburger oder einem Hohenzollern auf dem Thron? Diese, 1848 alles überlagernde, "deutsche" Frage dürfte beim kommenden Gedenk-Marathon kaum eine Rolle spielen; wer sich ihrer gar unter Berücksichtigung der Geschichte des 20. Jahrhunderts annähme, würde zweifellos sofort "jenningerisiert", als Tabuverletzter aus dem "Diskurs der Demokraten" ausgegrenzt werden.

Ebensowenig dürfte gewürdigt werden, daß es 1848 einen Wilhelm Emanuel von Ketteler gab, der als katholischer Kaplan von einem mehrheitlich protestantischen Wahlkreis in die Paulskirche entsandt wurde. Er möge, so die altpreußisch-westfälischen Honoratioren, dort dafür sorgen, daß "ein Preußen bis zur Mainlinie" errichtet werde. Der junge Priester ging im Mai 1848 nach Frankfurt, forderte in seiner ersten Rede die Abschaffung der Adelstitel, mit der Begründung, Aristokratie und König seien von ihren Idealen und Pflichten abgefallen. Seine Predigt im Frankfurter Dom trat für die Besserstellung der Arbeiterschaft ein. Er forderte Gewissensfreiheit und stellte sich gegen einen sich abzeichnenden Macht- und Militärstaat unter preußischer Dominanz.

Seine letzte Rede hielt der junge Ketteler auf dem Friedhof, bei der Bestattung zweier Abgeordneter, die von einer linksextrem verhetzten Menge ermordet worden waren. Wie meist kam auch hier die revolutionäre Freiheit als Willkür und Terror: "Ein Leichenzug, wie in Frankfurt noch nie gesehen hat, bewegte sich vom Roßmarkt zur Eschenheimer Straße. Die ganze Nationalversammlung, von Gagern an der Spitze, folgte dem Trauerwagen, gefolgt von einer unübersehbar großen Menschenmenge aus ganz Deutschland. Ketteler hielt eine ergreifende Rede über die Ursachen solchen Verbrechens: Die Untergrabung des religiösen Glaubens, das Anstacheln der niedrigen Leidenschaften, das Verbreiten von Aufruhrtheorien, die sich nichts als unablässige Veränderung aller Verhältnisse zum Ziel gesetzt hätten. Diese Greuel seien die Folge, die nicht zuletzt geschehen wären, weil durch die Niedertracht einer gewissen Presse zuvor bereits Rufmord verübt worden sei."

Die Ereignisse des Jahres 1848 spiegeln jene großen Fluchtlinien wider, auf denen sich die politischen und sozialen Entwicklungstendenzen und Probleme der europäischen Moderne bewegen: Liberalismus und Kapitalismus als dynamisch-schöpferische Zerstörung des Alten – Reaktion, Anarchismus, Sozialismus, Kommunismus und schließlich massendemokratischer Cäsarismus als Antwort darauf, beides sich nährend aus den kulturellen Ressourcen der beiden Christentümer, getragen von zwei gesellschaftlichen Subtraten, zwei Menschtypen, die seit der Aufklärung entstanden waren: dem Bürgertum und dem Proletariat, beide offenbar ausweglos aufeinander bezogen.

Deutschland droht hinter die Errungenschaften von 1848 zurückzufallen

Wer die revolutionären Ereignisse, vor allem die deutschen, vor nunmehr 150 Jahren rekapituliert und die damals erhobenen Forderungen mit dem heute Erreichten vergleicht, kommt zu einem durchaus zwiespältigen Ergebnis; zwar sind die bürgerlichen Freiheitsrechte heute im Grundrechtskatalog des Bonner Grundgesetztes verankert und formal garantiert. Gleichwohl sind Bestrebungen unübersehbar, sie teilweise auszuhöhlen. Auch die Teilung von gesetzgeberischer, richterlicher und regierender Gewalt scheint in der Kohl-Republik problematisch geworden zu sein.

Dazu kommt noch die einebnende Wirkung einer sich selbst auf Generallinie bringenden Medienwelt. Auf diesem für die moderne Demokratie grundlegenden Terrain scheint die Gesellschaft der Kohl-BRD dabei, hinter 1848 zurückzufallen: was die wirtschaftlich-soziale Partizipation der Staatsbürger an wichtigen Entscheidungen des Gemeinwesens anlangt, zeigen Euro-Gleichschaltung und neoliberale Durchglobalisierung, daß in Gestalt der Zwei-Drittel-Gesellschaft gefährliche Tendenzen aufgekommen sind, zu einer spätkapitalistischen Neo-Feudalisierung zu kommen. Infolge einer wahllos betriebenen Immigration versieht sich die Gesellschaft mit einer Schicht von Verarmten, die an vormärzliche Zeiten erinnert. Es ist keineswegs ausgemacht, daß die "Zivil-Gesellschaft" zwischen Biolek und Jagoda einer Eruption nicht mehr fähig ist: die DDR erschien am Ende ihrer Laufbahn besonders stark… Der spezifisch deutsche "Reformkurs", der Ausgleich zwischen Produktion und Protektion der Produzierenden, begann 1848 und wurde über Bismarcks Schutzgesetze, den SPD-Revisionismus, die christliche Sozialpolitik Weimars weiterentwickelt bis zu Erhard und Blüm.

Die Niederlage von 1945 bildete diesbezüglich keinen Bruch, wohl aber die weltgeschichtliche Wende von 1989, deren Ergebnis die unangefochtene Weltherrschaft Washingtons und der Wall Street ist; sie scheinen auf dem schlimmsten Wege, die oben skizzierte Entwicklung rückgängig zu machen. Als Folge ist eine sozialpolitisch offenbar unaufhaltsame Fragmentarisierung gerade der "entwickelten" Gesellschaften zu beklagen, wie man sie noch vor wenigen Jahren für unmöglich gehalten hätte. Womöglich verhält es sich mit den Ideen und Bestrebungen von 1848 wie mit der Aufklärung: nach ihrem Ende folgt – Aufklärung über ihr Ende.


 
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