© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    08/98 13. Februar 1998

 
 
Nachkriegsliteratur: Zur Diskussion über den Luftkrieg
Versuch einer Stellvertreter-Debatte
von Thorsten Hinz

Es geht um eine Amnesie in der deutschen Nachkriegsliteratur. Im Spiegel wurde kürzlich der in England lebende Schrifsteller W. F. Sebald mit dem Satz zitiert: "Der wahre Zustand der materiellen und moralischen Vernichtung, in welchem das ganze Land sich befand, durfte aufgrund einer stillschweigend eingegangenen und für alle gleichermaßen gültigen Vereinbarung nicht geschrieben werden." Literaturredakteur Volker Hage nahm das zum Anlaß, eine Liste vermeintlich ausgesparter Themen zu erstellen: der Luftkrieg gegen Deutschland, das Leben in den Ruinen, der Holocaust. Er meinte, die richtige deutsche Nachkriegsliteratur würde erst mit der Jahrtausendwende beginnen. Frank Schirrmacher hat in der FAZ die Liste um die Vertreibung erweitert und meint im Gegensatz zu Hage: "Es ist zu spät!"

Man kennt ähnliche Töne von Hans Jürgen Syberberg; auch die genannten Literaturexperten haben sich in der Vergangenheit mehrfach zur möglichen Abkehr von der deutschen Nachkriegsästhetik geäußert. Der bestimmende Ton, in dem das Lied jetzt wiederholt wird, rückt das, was an ihm richtig ist, aber in ein falsches Licht. Zahlreiche Autoren sind andernorts schon genannt worden, die besagte Themen sehr wohl behandelt haben, auch wenn vieles davon vor allem dokumentarischen und nur weniges "klassischen" Rang besitzt. Die Werke etwa von Böll, Koeppen oder Seghers enthalten viele Stellen, in denen zum Teil expressis verbis die Trümmerlandschaft und die inneren Zerstörungen der Menschen miteinander korrespondieren. In ihrer im Exil verfaßten Erzählung "Der Ausflug der toten Mädchen" hat die Seghers die Bombennächte, die Bedrückungen durch den Nationalsozialismus, das Exil und den Gastod ihrer Mutter in verknappter Form in einen erschütternden Zusammenhang gebracht. Ihre erste nach der Rückkehr verfaßte, reportagehafte Erzählung "Das Dorf S. in Mecklenburg", erschienen am 13. September 1947 in der Rhein-Neckar-Zeitung, bis heute nicht nachgedruckt und so gut wie unbekannt, über einen in Mecklenburg umgekommenen KZ-Transport offenbart die Gründe, warum es von ihr ein "klassisches" Werk dazu nicht mehr geben konnte: Ihr stockte der Atem; das Grauen war zu dicht, um es objektivieren zu können. Da mochten die Dogmen des sozialistischen Realismus als Ausflucht gerade recht kommen. Wenn man bestimmte Texte anderer Schriftsteller – Fühmanns oder Christa Wolfs – "gegen den Strich" liest, erkennt man, daß die Verkrüppelungen durch Krieg und Vertreibung darin implizit sind und sie durch ihre Verdrängung prolongiert, ja verstärkt wurden. Die Eigengesetze der Literatur wenden sich oft gegen die Intentionen ihrer Autoren: die Literatur ist auf längere Sicht ein aufrichtiges Medium.

Schirrmacher meint, es würde nunmehr höchstens historische Romane geben. Das wäre das Schlechteste nicht, wenn man bedenkt, daß Tolstoi (Jahrgang 1828) "Krieg und Frieden", den bedeutendsten Roman über den Eroberungszug Napoleons, zwischen 1863 und 1869 schrieb. Die Bombenangriffe jedenfalls bleiben gegenwärtig in der Häßlichkeit unserer Städte. Beispielhaft ist eine Passage aus dem Roman "Faserland" (1995) von Christian Kracht (Jahrgang 1968): "Da ist nun Heidelberg, und es ist wirklich schön dort im Frühling, während überall sonst in Deutschland noch alles häßlich und grau ist… So könnte Deutschland auch sein, wenn es keinen Krieg gegeben hätte und wenn die Juden nicht vergast worden wären."

Erinnerungen an Bomben, Terror und Vetreibung werden nicht nur in Archiven und Dokumentationen aufgehoben, sie wirken vor allem in Familienerzählungen über Generationen hinweg nach und können zum literarischen Thema und Katalysator werden. Die äußeren Bedingungen dafür haben sich ebenfalls verbessert: nie zuvor war es möglich, derart offen mit der polnischen Seite über Vertreibungen zu reden. Die frühere Polen-Korrespondentin der Zeit, Helga Hirsch, hat gerade in ihrem Buch "Die Rache der Opfer" über polnische KZs für Deutsche nach 1945 berichtet und ist mit den Verdrängungen ihrer eigenen, der 68er-Generation schonungslos ins Gericht gegangen.

Logischer wäre dieser Debattenversuch um verdrängte Themen in der Literatur im Gedenkjahr 1995 gewesen, als die Wellen in der Publizistik (auch um das Dresden-Bombardement) hochschlugen. Der tiefere Grund für Hages Beschwörung einer gewissermaßen "Nach- 99er-Literatur" und für Schirrmachers konträr gerichteten sentimentalen Wolf-Jobst-Siedler-Sound liegt – unausgesprochen – in der irrationalen Goldhagen-Debatte, dieser, wie der deutsch-jüdische Schriftsteller Chaim Schneider meint, "Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Hausierer in Sachen Holocaust". Sie ließ ja nicht nur an der mentalen Kalkulierbarkeit der Deutschen zweifeln als Folge der Neurosen, die einer einseitigen Geschichtswahrnehmung geschuldet sind. Sie verdeutlichte gleichsam nebenbei, wie wenig diese Art der geschäftsmäßigen Vergangenheitsbewältigung gerade auch den jüdischen Opfern gerecht wird. Und es ist schon so, wie Syberberg im "Verlorenen Auftrag" schreibt: "Dieses Land ist durch eine Hölle gegangen – nicht nur durch seine aktiven Taten, sondern auch durch seine passiv erfahrenen Leiden. Die haben wir aber nie realisieren dürfen."

Das ist inmitten dieser hochneurotischen Gesellschaft noch am wenigsten die Schuld der Literatur. Eine echte Debatte über ihre Amnesie wird es deshalb nicht geben; das Thema zielt schon im Ansatz auf eine unaufrichtige Stellvertreter-Debatte, die die Literatur überfordert. Dennoch ist es gut, daß die kurzen Repliken einmal ausgetauscht wurden.


 
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