© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    09/98 20. Februar 1998

 
 
Zum Tod von Ernst Jünger: Gespräch mit Heimo Schwilk über das Leben und Werk des Dichters
"Ein Ozean erfüllter Augenblicke"
von Dieter Stein

Welche Lücke hinterläßt der am Dienstag verstorbene Dichter Ernst Jünger?

SCHWILK: Zuerst einmal werden die aufatmen, die Jünger von Anfang an das Plätzchen streitig machen wollten, das er in der bundesdeutschen Zerstreuungsgesellschaft einnehmen durfte. Er, der Nichtverwertbare, dem allgemeinen "Diskurs" Entzogene, politisch Desinteressierte ist nun endgültig abgetreten, aufgebrochen zum allerletzten Abenteuer, in den Tod. Daß das Leben ein Geheimniszustand sei und der Mensch ein wunderbares Wesen in einer durchaus wunderbaren Welt, dieser romantische Grundzug seines Denkens riß eine Lücke auf, die ihn schon zu Lebzeiten von jenen trennte, die an der Profanisierung und Banalisierung unserer Existenz tagaus tagein geschäftig arbeiten. Jünger hinterläßt keine Lücke, sondern einen Ozean erfüllter Augenblicke, die Poesie geworden sind in einer nur noch geschwätzig-kommunikativen Welt.

"Er pflegte ein von Allgemeinplätzen freies Denken, Beifall der Masse bedeutete ihm nichts"

Es gab manchen, der Ernst Jünger in den letzten Jahren noch drängte, noch einmal als "politischer Dichter" das Wort zu ergreifen. Er hat dies stets abgelehnt. Hat er sich zwischen den Zeilen oder in Randbemerkungen nicht doch bis zuletzt auf seine Weise eingemischt?

SCHWILK: Ernst Jünger hat unmittelbar nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten in zahlreichen, bislang unpublizierten Briefen zum Ausdruck gebracht, daß das gesinnungsmäßige Reden über Politik für einen musischen Menschen einer Selbstverstümmelung gleichkomme. Dem waren fünf Jahre polemischer Einmischung in Zeitschriften und Sammelpublikationen vorausgegangen. Daß er nach 1945 an seinem Verdikt über das Politische festhielt, brachte die Vertreter einer engagierten Literatur gegen ihn auf, von denen Benn verächtlich sagte, sie pflegten ein "hündisches Kriechen vor den politischen Begriffen". Zum sogenannten demokratischen Diskurs hatte Ernst Jünger tatsächlich wenig beizutragen, viel dagegen zu dem, was Heidegger die Existentialien genannt hat: Zeitlichkeit, Geworfenheit, Sterblichkeit. Philosophieren an der Wahlurne hielt er nicht für eine produktive Tätigkeit.

Weshalb wurde Ernst Jünger bei unseren Nachbarn – insbesondere den Franzosen – so sehr geschätzt, während er in Deutschland als "umstritten" galt?

SCHWILK: Umstrittenheit ist per se nichts Verwerfliches, sofern der Streit wirklich stattfindet und nicht, wie in Deutschland, ein perennierendes Spruchkammerverfahren. Die Franzosen schätzen in erster Linie an Jünger, und das ist sympathisch, daß er ihr Land liebt und es auch exzellent kennt und in seiner Eigenart wahrnimmt. Sie zollen seiner Moralität Respekt, mit der er die heikle Mission des Besatzungsoffiziers und Literaten in Paris in den Jahren 1940 bis 1944 überstand, ohne seine Integrität zu beschädigen. Sie liebten die Klarheit und Leuchtkraft seiner Sprache und das in ihr zugleich zum Ausdruck gebrachte und als typisch deutsch empfundene Sinnbegehren. Francois Mitterand bemerkte in seiner Laudatio zum 100. Geburtstag, Jünger sei ein "Freier Mensch". Das sollte heißen: er pflegte ein von Allgemeinplätzen freies Denken, dem der Beifall der Masse nichts bedeutet.

Hat Jünger die Tagespolitik eigentlich bis zuletzt verfolgt?

SCHWILK: Ernst Jünger hat regelmäßig die Zeitung gelesen, übrigens auch die junge freiheit, den politischen Teil aber eher flüchtig, wie er mir gegenüber mehrfach beteuerte. Er war also im Bilde, und manche spöttische Bemerkung in den Tagebüchern zeigt, daß er den Verfall des bundesdeutschen Polit-Betriebs, die von den Volksparteien repräsentierten Scheingegensätze, scharf ins Auge faßte. Interessiert haben ihn jedoch eher die allgemeinen Uniformisierungsprozesse, die seine im "Arbeiter" dargelegte Epochenwahrnehmung bestätigten. Gleichzeitig erwartete er vom 21. Jahrhundert eine neue Spiritualität, deren Voraussetzung eben jene in Essays und Tagebüchern beschriebenen Abräumungsvorgänge sind.

Worin liegt die Zukunftsbedeutung des Werkes von Ernst Jünger?

SCHWILK: In seiner Seinsgläubigkeit, seiner "neuen Theologie", die der Destruktivität und Kleingläubigkeit des modernen Menschen nicht das letzte Wort läßt.

"Der Anarch ist souverän und verfügt frei über sich und seine Rolle in der Gesellschaft"

Eine wichtige Denkfigur bei Jünger war der Anarch. Was müssen wir heute darunter verstehen?

SCHWILK: Der Anarch ist, anders als der Anarchist, kein politischer, auf radikale Veränderung sinnender Mensch. Das Politische ist ihm äußerlich, abgeleitet und sekundär. Der Anarch – oder auch "Waldgänger" – ist souverän und verfügt frei über sich und seine Rolle in der Gesellschaft. Dienst und Freiheit sind dabei keine Gegensätze, das Opfer, aber auch der Selbstmord, gehören zu seinem Kapital. Im Essay "Der Waldgang" hat Jünger diese Haltung so beschrieben: "Waldgänger ist jener, der ein ursprünglicheres Verhältnis zur Freiheit besitzt, das sich, zeitlich gesehen, darin äußert, daß er dem Automatismus sich zu widersetzen und dessen ethische Konsequenz, den Fatalismus, nicht zu ziehen gedenkt." Der Anarch missioniert nicht mit seinen Erkenntnissen, er lebt als der Einzige mit dem Eigentum seiner eigenen Erfahrungen – allenfalls leuchtet er als Beispiel voran. Könnte man Treffenderes über Ernst Jünger sagen?


 
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