© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/98 27. Februar 1998

 
 
Nordamerikas komplexe Historie: US-Forscher gegen pauschale Täter- und Opferrollen
Abschied vom Indianermythos
von Alexander Beermann

Der Mythos des "edlen Wilden" findet bei den Deutschen in bezug auf die Indianer traditionell großen Anklang. Hierzulande gibt es so gut wie keine Literatur, in der die amerikanischen Ureinwohner nicht pauschal als Opfer und die euro-amerikanischen Siedler ebenso pauschal als Täter hingestellt werden.

In Nordamerika selbst ist die Diskussion weitaus differenzierter. Dort ist die Zeit der völlig einseitigen Selbstanklagen der Weißen, die in den 70er Jahren nicht zuletzt in Dee Browns Bestseller "Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses" gipfelte, inzwischen größtenteils überwunden. Das Buch ist ein bewegendes Meisterwerk, jedoch gibt es die Geschichte aus der Perspektive der Indianer wieder und klammert nicht ohne Grund die Epochen der frühen Besiedlung der Ostküste aus, obwohl dort zwischen 1492 und 1812 der eigentliche Kampf um das Herz des Kontinents stattgefunden hat.

Die Festigung der Macht der Franzosen im heutigen Québec verlief parallel zur Ansiedlung der Engländer an der amerikanischen Ostküste (Ankunft der "Pilgerväter" 1620). Zuvor hatten Wikinger um die Jahrtausendwende den Nordosten des Kontinents zu gewinnen versucht. Doch in Neufundland vertrieben die Beothuks die Eindringlinge, und in Grönland waren es die Eskimos, die den Kampf zu ihren Gunsten entschieden, wobei auch klimatische Veränderungen den nordischen Siedlern schwer zusetzten. Dem Militärhistoriker John Keegan zufolge sind manche Anthropologen – allen herkömmlichen Klischees zum Trotz – sogar der Meinung, daß die Ureinwohner der "Neuen Welt" zusammen mit den Polynesiern zu den kriegerischsten und grausamsten Völkerschaften überhaupt gehören, vergleichbar mit den mongolischen Steppenvölkern. Unterstützt werden diese Thesen durch den Anthropologen Lawrence Keely. Der Professor an der Universität von Chicago meint: "Wir haben uns früher gegen die archäologische Beweislast gestellt. Ich selbst benutzte damals alle rhetorischen Tricks, die ich heute meinen Kollegen vorwerfe, um damit die wichtige Rolle, die der Krieg in Mesoamerika spielte, zu leugnen." Laut Keely deuten die archäologischen Funde darauf hin, daß prozentual gesehen die Verluste der amerikanischen Ureinwohner infolge kriegerischer Auseinandersetzungen in der Zeit vor der weißen Landnahme viermal höher waren als jene der US-Amerikaner und Europäer im 20. Jahrhundert. Auch aus den Berichten der frühen Entdecker wird deutlich, daß Krieg und Vertreibung in Amerika mitnichten ein fremdes Phänomen darstellten. So fand der Franzose Samuel Champlain in Québec rund siebzig Jahre nach der ersten französischen Expedition Huronen und Abnaki vor, obwohl noch seine direkten Vorgänger wahrscheinlich mit anderen Stämmen handelten. Diese waren durch ihre indianischen Feinde inzwischen nach Südosten abgedrängt worden.

Die gegenseitige Hilfe zwischen holländischen, schwedischen und englischen Siedlern einerseits und den Indianern andererseits beruhte auf handfesten Handelsinteressen, zu denen ganz besonders der Wunsch gehörte, die stählernen Waffen der Neuankömmlinge zu besitzen. So war die Unterstützung Powathans, des Vaters der berühmt gewordenen Pocahontas, für die Siedler ein genau kalkulierter Schritt, der dank der Waffenkäufe von entscheidender militärischer Bedeutung gegen die aus Westen und Norden heranrückenden indianischen Gegner sein sollte.

Champlain mußte an einem Kriegszug gegen die Mohawks auch deshalb teilnehmen, um die Gunst der Huronen zu behalten, obwohl er aus den Feinden seiner Verbündeten viel lieber weitere Kunden gemacht hätte. Doch so wurden die Mohawks, und damit die ganze Irokesen-Konföderation, den Holländern und Briten zugetrieben.

Indianerkriege beschränkten sich keineswegs auf kleine Raubzüge. Politisch korrekte Historiker vertreten den Standpunkt, Massaker seien in der Neuen Welt erst nach und durch den Kontakt mit der "europäischen Zivilisation" entstanden. Dagegen spricht u. a. ein archäologischer Fund, der vor einigen Jahren am Crow Creek in South Dakota gemacht wurde, wo man auf die Überreste von mehr als 500 Menschen stieß, die die Wissenschaftler auf die Zeit um das Jahr 1325 datieren. Man entdeckte eindeutige Zeichen starker Verstümmelungen, wobei alle Schädel Merkmale von Skalpierungen aufwiesen. Mit diesem Fund wurde also noch ein weiterer Mythos aus der Welt geschafft, nämlich daß der Brauch des Skalpierens von den Europäern eingeführt worden sei. Inzwischen ist sich die Fachwelt einig, daß die Franzosen und Engländer sich vielmehr ein schon bestehendes grausames Ritual zunutze machten, indem sie während ihrer Kriege Prämien auf die Skalps aller Feinde aussetzten.

Es fällt auf, daß aus Sicht der "Bleichgesichter", angefangen von Christopher Columbus bis hin zu Thomas Jefferson, den Ureinwohnern zunächst Intelligenz bescheinigt wurde. Jefferson sah eine Assimilation der Ureinwohner als unproblematisch an. Auch Walter Raleigh und Ferdinand Magellan schienen von den Eingeborenen beeindruckt. – Was jedoch veränderte diese Grundhaltung? Kulturelle Mißverständnisse sicherlich und die unvermeidlichen Konflikte um die natürlichen Reichtümer, allen voran den Besitz des Landes. Hinzu kam aber auch, daß die Europäer durch den weitverbreiteten Kannibalismus, Menschenopfer und rituelle Marterungen von Gefangenen zunehmend Abscheu gegenüber den "Wilden" empfanden.

Entlang der nordamerikanischen Ostküste fanden die Auseinandersetzungen meist in den dichten Wäldern zwischen Florida und dem heutigen Kanada statt. Daß die Indianer mit der bisher unerforschten Wildnis bestens vertraut waren, war ein außerordentlicher strategischer Vorteil, sofern sie den Abwehrkampf suchten. Doch in der Regel zogen sie den Kontakt zu den Weißen wegen deren Perlen, Stahlwaffen, "Donnerstöcken" und Metallutensilien dem Ausweichen oder dem Krieg vor. Insbesondere die Mohawks wurden infolge ihrer frühen Kontakte zu Weißen und damit des Zugangs zu Gewehren schnell sehr mächtig. Die durch politische Verwirrungen verursachte Sperrung der Waffenlieferungen an die pro-französischen Stämme der Eries, Neutrals und Huronen führte zur Vernichtung der beiden erstgenannten und zur starken Dezimierung der Huronen durch die Irokesen-Stämme zwischen 1630 und 1645.

Fast zwei Jahrhunderte lieferten sich Franzosen und Briten zusammen mit ihren jeweiligen indianischen Alliierten sporadische Gefechte um die Herrschaft über Nordamerika. Beide Parteien fürchteten am meisten die Indianer der Gegenseite, und eine Gefangenschaft war der Alptraum jedes Weißen, zumal die Indianer dafür bekannt waren, daß sie nach Niederlegung der Waffen oft ihr Wort brachen und die Besiegten töteten oder in ihre Dörfer verschleppten, um sie zu foltern oder zu versklaven.

Während der ersten großen Aufstände gegen die immer weitere Ausbreitung der Weißen standen von Anfang an viele Indianer auf seiten der Siedler. So war Unkas, der durch Coopers fiktiven Bestseller "Der letzte Mohikaner" Unsterblichkeit erlangte, ein zuverlässiger Bündnispartner, dessen Krieger sich 1637 mit Begeisterung an einem Gemetzel an 700 Pequots beteiligten. An solche Vorfälle knüpft die Theorie an, wonach die Indianer durch Abhängigkeit zu willigen Helfern einer Politik des Genozids wurden. Tatsächlich gab es kaum Anzeichen dauerhafter Solidarität zwischen Indianerstämmen zum Zweck der Abwehr der weißen Eindringlinge. Daß dem so war, legt den Schluß nah, daß auch eine kontinuierliche Politik des Genozids nicht existierte. Diejenigen, die solches behaupten, berufen sich auf Vergleiche zwischen den Bevölkerungsziffern vor und nach der Ankunft der Weißen. Doch besteht wenig Zweifel daran, daß die rapide Abnahme der Bevölkerung überwiegend durch Epidemien verursacht wurde. Manche Krankheiten (aber längst nicht alle) wurden von den Siedlern "mitgebracht", jedoch ist es eine Legende, daß die Kolonisten den Indianern immer wieder pockeninfizierte Decken als "biologische Waffen" übergeben hätten.

Zwischen 1763 und 1812 fügten die Indianer den Amerikanern wiederholt schwere Niederlagen zu, wobei die Verluste diejenigen Custers am "Little Bighorn" 1876 bei weitem überstiegen. Mit dem Tode Tecumsehs 1812 war der Weg über den Mississippi für die landhungrigen Siedler dann fast frei. Die letzten nicht unterworfenen Ureinwohner östlich des Stromes, die Sauk und Fox, wurden 1832 nach einer Niederlage westwärts über den Mississippi gedrängt. Ihre Hoffnung, bei den Sioux Zuflucht finden zu können, wurde in einem großen Massaker begraben.

Spanier, Franzosen, Briten und die unabhängigen US-Amerikaner machten sich vieler Verbrechen an den Indianern schuldig. Doch dies darf nicht den Blick dafür verstellen, daß es ein großes Ausmaß von Brutalität auch unter den Ureinwohnern gab. Der Mythos der "edlen Wilden" ist wenig hilfreich, will man die komplexe Geschichte der weißen Landnahme in Nordamerika und der indianischen Reaktionen schlüssig und frei von politischen Hintergedanken darlegen.


 
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