© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/98 27. Februar 1998

 
 
Schutzengel
Für Ernst Jünger
Eine Erzählung von Serge Mangin

Ich werde oft gefragt, wie und aus welchem Grund ich Bildhauer geworden sei. Manchmal gebe ich mir selbst die Antwort: Weil ich einmal auf wundersame Weise am Leben geblieben bin.

Diese Geschichte hat einen ganz banalen Anfang. Während einer Massenschlägerei unter Wehrpflichtigen aus dem Elsaß und anderen Teilen Frankreichs verlor ich die Hälfte meiner Uniform in den Herbstnebeln von Fontainebleau. Ich muß so um die 20 Jahre alt gewesen sein. Ich war ziemlich betrunken, trotzdem war mir klar, daß ich in meinem Zustand unmöglich am Wachposten vorbei in meine Unterkunft kommen würde, ohne Rechenschaft ablegen zu müssen.

Zwei deutsche Fremdenlegionäre aus Leipzig – sie mit ihrem Legionärsfranzösisch, ich mit meinen kaum vorhandenen Deutschkenntnissen – halfen mir aus dieser Klemme. Die beiden waren gebaut wie zwei Schränke. Ich konnte mich hinter dem Rücken des einen verstecken, während der andere die Aufmerksamkeit des Wachpostens ablenkte. Wie ein krankes Kind brachten mich die beiden Kerle dann zu Bett und dachten sogar daran, das Fenster zu schließen, damit ich mich nicht erkälte.

Solche Geschichten machen gemeinhin das aus, was man als die Jugend bezeichnet, und man vergißt diese Anekdoten, wie man eine Zigarette oder ein Essen vergißt.

Ungefähr zehn Jahre später bekam ich es mit weitaus bedrohlicheren Nebeln als jenen von Fontainebleau zu tun, Hamburger Nebeln, um genau zu sein. Diesmal handelte es sich mitnichten um eine Schlägerei zwischen betrunkenen Soldaten, sondern um den Kampf des Daseins, um lautlose tödliche Nebel. Ich kam von einem Studentenball, einem Maskenball in der Mensa Schlüterstraße. Ich glaube, an jenem Tag hatte ich alles, fast alles verloren, die Geliebte, meine Arbeit am Institut Français, und zum Ende des Monats war mir mein Zimmer gekündigt worden. Dazu kam, daß alle meine künstlerischen Versuche bisher vergeblich geblieben waren. Es hatte mich mit einem Wort jene entsetzliche Verzweiflung gepackt, die den Menschen erst wirklich zum Menschen macht und ohne deren Erfahrung er vom Leben nichts weiß.

Es war Winter, der Schnee war frisch gefallen und noch unberührt, der Himmel war so klar wie in den Nächten auf dem Peloponnes. Der gesamte Kosmos gab sich ein äußerst bizarres Stelldichein.

Die verlassenen Gärten der Universität schienen mir wie geschaffen für mein Vorhaben, meinen Sorgen ein für allemal ein Ende zu bereiten. Ein Satz Goethes ging mir im Kopf herum: "Wer sich entschließen kann, besiegt den Schmerz."

Die Entscheidung traf ich nicht schnell, auch nicht langsam, aber entschlossen. Ich trug einen langen Ledermantel, den breitete ich nun wie ein Bett auf dem Schnee aus. Ich hatte eine Flasche roten Bourgogne bei mir. Noch heute kann ich mich an die Marke erinnern, aber wie diese Flasche in meinen Besitz gelangt ist, weiß ich dagegen nicht mehr. Ich ließ mich nieder und leerte die Flasche in zwei oder drei langen Zügen. Mit Bewunderung blickte ich in den Sternenhimmel, während mir die Tränen über das Gesicht liefen. Das sollte das Ende sein. Mir blieb gerade noch die Zeit, eine Stimme sagen zu hören: "Den können wir doch hier nicht liegen
lassen."

Zwei Unbekannte hoben mich auf, fanden in einer meiner Taschen meine Adresse und meine Schlüssel, brachten mich auf mein Zimmer und retteten mir so das Leben.

Es waren die beiden Legionäre aus Leipzig.


 
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