© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/98 06. März 1998

 
 
Wahlnachlese: Schröder-Sieg löst Personaldebatte in der CDU aus
Befreiung vom Kanzler
von Thorsten Thaler

Heiner Geißler zögerte verdächtig lange mit der Antwort, einige Sekunden lang herrschte vielsagendes Schweigen. Ob die Ära Kohl zu Ende geht, werde sich spätestens am 27. September zeigen, sagte der langjährige CDU-Generalsekretär schließlich und blickte treuherzig in die Talkshow-runde. Die Betonung war so eindeutig, daß sich Nachfragen der Moderatorin Sabine Christiansen erübrigten. Mehr wäre aus dem stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, der seit dem gescheiterten Putschversuch von 1989 gegen Kohl zu dessen Intimfeinden zählt, ohnehin nicht herauszuholen gewesen. Geißlers Botschaft an diesem Abend der niedersächsischen Landtagswahl war dennoch klar: Helmut Kohl sollte noch vor der Bundestagswahl das Feld räumen und einem neuen Kanzlerkandidaten der Union Platz machen.

Allen Dementis zum Trotz: Der Wahlsieg Gerhard Schröders (siehe Graphik) am vergangenen Sonntag hat in der Union eine Personaldebatte ausgelöst, die es nach dem Willen Kohls nicht geben darf. Aus der Deckung wagen sich denn auch nur wenige. So hat bislang nur die CDU-nahe Studentenorganisation RCDS in Bayern offen die Ablösung Helmut Kohls als Kanzlerkandidat der Union gefordert. "Ich glaube, daß wir den Bürgern nur schwerlich 20 Jahre Helmut Kohl verkaufen können", sagte Volker Ullrich, bayerischer Landesvorsitzender des Rings Christlich-Demokratischer Studenten, am Montag in München. "Vielmehr ist ein Befreiungsschlag vonnöten", erklärte Ullrich. Denkbar sei, Fraktionschef Wolfgang Schäuble noch im Frühjahr zum Bundeskanzler zu wählen, damit er als Regierungschef die Bundestagswahl am 27. September bestreiten könne, heißt es in einer Mitteilung des RCDS.

Die Mehrzahl der CDU-Politiker, die einen raschen Wechsel der Kanzlerkandidatur von Helmut Kohl zu seinem "Kronprinzen" Schäuble favorisieren, äußern sich zurückhaltender. "Ich halte Schäuble für den deutschen Tony Blair. Er treibt die Reformen voran", orakelte der nordrhein-westfälische Bundestagsabgeordnete Armin Laschet zwischen den Zeilen. Und der Bundesvorsitzende der Jungen Union (JU), Klaus Escher, erklärte kryptisch, Kohl sei die Mitte der Partei, Schäuble hingegen das Zentrum.

Allenfalls hinter vorgehaltener Hand sind vor allem jüngere Unionspolitiker bereit, Tacheles zu reden. Ein JU-Vorstandsmitglied, das nicht namentlich genannt werden wollte, sagte am Dienstag gegenüber der jungen freiheit: "Die Wahl in Niedersachsen hat gezeigt, daß Helmut Kohl für die CDU kein Zugpferd mehr ist. Er hat eine persönliche Niederlage erlitten, aus der er die Konsequenzen ziehen sollte."

Als möglichen Zeitpunkt für einen Rückzug Kohls noch vor der Bundestagswahl verwies der Nachwuchspolitiker auf das Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs am ersten Mai-Wochenende. Wenn nach dieser Gipfelkonferenz die Entscheidung über den endgültigen Teilnehmerkreis der Währungsunion gefallen und damit der Euro unter Dach und Fach sein wird, so der JU-Funktionär, könnte Kohl von der politischen Bühne "ohne Gesichtsverlust" abdanken – ein Szenario, mit dem selbst viele Bonner CDU-Abgeordnete liebäugeln, die im Herbst um ihr Mandat bangen müssen.

In der Bevölkerung gehen die Ansichten über einen möglichen Kandidatenwechsel bei der CDU auseinander. Bei einer Blitzumfrage des Meinungsforschungsinstituts infratest dimap am Tag nach der Niedersachsen-Wahl sprachen sich 42 Prozent dafür aus, Schäuble aufzustellen, 41 Prozent der Befragten wollten an Kohl festhalten.


 
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