© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/98 06. März 1998

 
 
Krisenerscheinungen in Tschechenien: Pleitenwelle, Währungsturbulenzen und politische Instabilität
Der Samtvorhang ist zerrissen
von Ludeck Pachmann

Noch vor einem Jahr galt Tschechien als ein Musterbeispiel der erfolgreichen Umwandlung vom Kollektivismus zur Marktwirtschaft. Letzterem Begriff wollte der im Westen lange Zeit sehr geschätzte Ministerpräsident Klaus bezeichnenderweise unter keinen Umständen das an das Erbe Ludwig Erhards erinnernde Adjektiv "sozial" beigefügt wissen. Klaus war bekannt für seinen pro-amerikanischen und anti-deutschen Kurs auch in Wirtschaftsfragen.

Einige Jahre lang funktionierte nach der "Samtenen Revolution" von 1989 das tschechische Wirtschaftsleben relativ gut: Große Investitionen – vor allem aus Deutschland – machten die Krone zur stabilsten aller Währungen der Ex-Ostblock-Staaten, das Land verfügte über ziemlich umfangreiche monetäre Reserven und konnte einen ausgeglichenen Haushalt präsentieren, die Arbeitslosigkeit war sehr niedrig (wenn auch künstlich nach unten gedrückt), und die Inflationsrate blieb beständig unter 10 Prozent. Aber innerhalb eines Jahres hat sich alles drastisch geändert. Heute zeigt sich, daß die mit der Kupon-Privatisierung verbundene Transformation zu schnell gegangen ist. Es kam zu einer enorm hohen Zahl von Pleiten, von denen auch Banken betroffen waren; die Kuponaktien-Fonds verwirtschafteten einen großen Teil der ihnen anvertrauten Aktien, und die Währung geriet deutlich unter das vorher gesetzlich festgelegte Niveau. Der Wechselkurs der Tschechischen Krone fiel von 16 bis 17 Kc für 1 DM auf zeitweilig über 20:1 und hält sich nun knapp unterhalb dieser Grenze. Die Arbeitslosigkeit wuchs (Ende 1997: fast 269.000 Stellensuchende = 5,2%), und massive soziale Konflikte bahnten sich an – die Gewerkschaften drohten sogar mit dem Generalstreik. Das Ende des "tschechischen Wirtschaftswunders" ließ sich nicht mehr leugnen. Das Land fiel ökonomisch hinter die beiden anderen aussichtsreichsten Bewerber um die EU- und NATO-Mitgliedschaft, Ungarn und Polen, zurück.

Aber noch viel gefährlicher als die wirtschaftlichen Rückschläge wurde die politische Instabilität. In der Drei-Parteien-Koalition aus konservativer Bürgerlich-Demokratischer Partei (ODS) von Ministerpräsident Klaus, liberaler Bürgerlich-Demokratischer Allianz (ODA) sowie christlich orientierter Tschechischer Volkspartei (KDU-CSL) gab es immer mehr Spannungen, und nach der Wahl im Juni 1996 war eine Pattsituation zwischen Regierung und Opposition entstanden, die später durch zwei Überläufer zugunsten der Koalition nur knapp überwunden wurde.

Schwerwiegend war die ganzen Jahre über die Rivalität zwischen dem Staatspräsidenten Havel und dem Ministerpräsidenten Klaus. So kam es keineswegs völlig unerwartet, daß Václav Havel Ende 1997 die Abwesenheit des Ministerpräsidenten auf einem Wirtschaftsgipfel in den USA dazu nutzte, seinen Rivalen loszuwerden. Zur Begründung des am 30. November erfolgten Rücktritts von Klaus dienten Spendenaffären: Die ODS hatte als Spender einen bereits toten Ungarn, einen unbekannten Mauretanier und eine geheimnisvolle Firma auf den Jungferninseln angegeben. Diese Vorwürfe waren fast humoristischer Natur und zudem einseitig, denn mit ihren Spenden gingen praktisch alle tschechischen Parteien recht freimütig um. Auch die ODA hatte hier ihre Affären, und die Sozialdemokraten lösten das Finanzierungsproblem sehr einfach: Sie weigerten sich, ihre Spender zu nennen – ohne Konsequenzen. Die ODS dagegen zerfiel in zwei Parteien: Die aus Protest gegen Klaus ausgetretenen 30 Parlamentarier und Minister gründeten am 17. Januar die Freiheitsunion (US). In der provisorischen Regierung ohne ODA und KDU-CSL – die die Zeit bis zu den vorgezogenen Parlamentswahlen am 19. Juni überbrücken soll – besetzten politische Freunde Präsident Havels alle Schlüsselpositionen.

Im Gefolge dieser Ereignisse wurde die rechte Mitte des politischen Spektrums entschieden geschwächt. Eine in der ersten Februarhälfte vom öffentlich-rechtlichen Meinungsforschungsinstitut mit Blick auf die Wahlen durchgeführte Umfrage ergab folgende Zustimmungswerte in der Bevölkerung: Sozialdemokraten (CSSD): 29%, ODS: 10,3%, US: 10%, Kommunisten (KSCM): 8%, die chauvinistischen, antideutschen und rassistischen Republikaner (SPR-RSC): 6%, KDU-CSL: 8,5% und ODA: nur 3,5% – also weniger, als für das Überspringen der 5-Prozent-Hürde nötig. Es steht schon jetzt so gut wie fest, daß die Sozialdemokraten im Juni zur stärksten Partei werden, die als sicheren Koalitionspartner auf die KDU/CSL zählen können und die möglicherweise auf eine Duldung ihrer Regierung durch die Kommunisten angewiesen sein werden.

Das sind ganz schlechte Prognosen für die Zukunft des Landes. Die Sozialdemokraten sind überdies noch größere antideutsche Chauvinisten, als es Klaus ist. Und die KDU/CSL ist eine Partei, die der Beteiligung an der Macht absoluten Vorrang vor Prinzipien geschweige denn christlichen Überzeugungen gibt. Momentan ist Staatspräsident Havel die einzige im Lande selbst und auch im Ausland anerkannte Autorität Tschechiens. Aber Vaclav Havel ist ernsthaft krank, und es steht keineswegs fest, ob er die angehäuften Probleme noch bewältigen kann.

Wie groß die Politikerverdrossenheit der Tschechen inzwischen ist, hat sich in der genannten Meinungsumfrage gezeigt: nur 42% der Bürger wollen demnach zu den Wahlen gehen, 25% lehnen dies ausdrücklich ab, die restlichen sind noch unentschlossen. So ist die Zukunft des Landes in der Mitte Europas sehr problematisch – einschließlich der angestrebten Aufnahme in die NATO und die EU. Im US-Senat gibt es bisher keine Mehrheit für die Osterweiterung der westlichen Militärallianz, und etliche Abgeordnete, unter ihnen auch einflußreiche Amerikaner tschechischer Herkunft, sind explizit gegen einen Beitritt der Tschechischen Republik. Begründung der US-Tschechen: Die Regierung in Prag lehne die Restitution ihres Eigentums ab.

Die Euphorie von Ende 1989 gehört bei der großen Mehrheit der Bevölkerung eindeutig der Vergangenheit an, und oft hört man in Gesprächen die zutiefst irrationale Bemerkung "früher war es eigentlich besser".


 
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