© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/98 06. März 1998

 
 
Ostdeutschland: Papst Pius XII. verurteilte vor 50 Jahren die Vertreibung der Deutschen
Brachland fruchtbar gemacht
von Alfred Schickel

Manchmal diskutiert man hierzulande Papst-Briefe, die man noch gar nicht kennt – und vergißt allzu schnell diejenigen, die bleibende Erinnerung verdienten.

Das laufende Jahr liefert gleichsam die Beispiele. So erregten sich im Januar landbekannte Meinungsführer über ein Schreiben Johannes Pauls II., dessen Text sie noch gar nicht gelesen hatten und verstiegen sich zu unmäßigen Attacken gegen Papst und Kirche; und da jährt sich am 1. März das Datum eines Briefes zum 50. Male, der damals ein schier einmaliges Zeugnis väterlicher Verbundenheit mit einem mehrfach geschlagenen Volk war. Von Pius XII. verfaßt und an die "geliebten Söhne und ehrwürdigen Brüder in Deutschland" gerichtet, drückt er in berührenden Worten das ganze Mitleid eines wahrhaft "Heiligen Vaters" aus und bekennt sich zu Menschen, die in jenen Jahren mehr als Kriegsverbrecher denn als normale Mitglieder der menschlichen Zivilisation betrachtet wurden, deren Not und Elend als verdientes Schicksal gesehen und nicht als Anruf zur Hilfe empfunden wurde; denen Siegerprozesse drohten und statt Hilfslieferungen fortschreitende Demontagen vor Augen standen. Ihnen bescheinigte Pius XII. vor aller Welt in aufrüttelnden Worten die eingetretene Notlage:

"Deutschland, das noch vor einem Menschenalter blühende, von Kraft strotzende, reiche und industriemächtige Land, ist einem zermürbenden Verarmungsprozeß anheimgefallen: durch den Krieg verbraucht und tief verschuldet, durch Kriegszerstörungen weiterhin verheert, durch die Kriegsfolgen eingeengt, maßlos übervölkert und mit einem unnatürlichen Mißverhältnis der Geschlechter und Altersstufen belastet, in eine wirtschaftliche Lage gezwungen, die dem Wiederaufbau alle nur erdenklichen Hindernisse in den Weg legt, muß es mit allgemeiner Armut auf lange Sicht rechnen und mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zunächst auf ein Ziel hinsteuern: daß wenigstens das Existenzminimum gewahrt und gerettet werde."

Das Existenzminimum sollte gewahrt werden

Ein Satz, der alles zusammengefaßt, was die Menschen damals in Deutschland heimsuchte und sich deutlich von den zeitgenössischen Kollektivschuldzuweisungen unterscheidet. Pius XII. nutzte alle ihm zu Gebote stehenden Möglichkeiten, den von Hunger und Tod bedrohten Menschen im Reich zu helfen und karitative Aktionen in die Wege zu leiten. Wie engste Mitarbeiter wie Schwester Pasqualina Lehner und die Jesuitenpatres Faller und Leiber später bestätigten, wurde der Pontifex nicht müde, "öffentlich und noch mehr in vertraulicher Beratung Vernunft und Gewissen der Welt und der führenden Männer sowie den Brudersinn der Gläubigen anzurufen und ihnen begreiflich zu machen, daß … der planvolle, auch unter Opfern durchzuführende Kampf gegen die Not in Deutschland und anderen Mangelländern die gemeinsame Pflicht aller noch gebefähigen Länder und Völker ist."

Ein besonderes Wort der Anteilnahme richtete Pius XII. in seinem Schreiben an die Ost- und Sudetendeutschen, "die aus ihrer Heimat im Osten zwangsweise und unter entschädigungsloser Enteignung ausgewiesen und in die deutschen Zonengebiete überführt wurden". Wie Millionen Betroffene stellte er öffentlich die Frage, ob es denn erlaubt sein könne, "zwölf Millionen Menschen von Haus und Hof zu vertreiben und der Verelendung preiszugeben". Und als ob er die heutige Verrottung weiter Landstriche der Vertreibungsgebiete vorausgesehen hätte, gab er bereits vor fünfzig Jahren zu bedenken, ob denn "jene Maßnahme (die Vertreibung) politisch vernünftig und wirtschaftlich verantwortbar" sei, "wenn man an die Lebensnotwendigkeiten des deutschen Volkes und darüber hinaus an den gesicherten Wohlstand von ganz Europa" denke.

In der Tat haben sich Tschechen und Polen durch die Vertreibung der langansässigen Bevölkerung an Oder, Elbe und Eger letztlich nur wirtschaftlich geschadet und ökologisch folgenschwer versündigt, wie verheerende Überschwemmungen und verschlammte Wasserläufe drastisch vor Augen führten und heute noch den von Pius XII. herbeigewünschten "gesicherten Wohlstand von ganz Europa" in Frage stellen. So schien es nur angesichts der damals noch vorherrschenden Rache- und Vergeltungsgefühle der Vertreiber unrealistisch, wenn der Papst vor 50 Jahren "wünschte" und "hoffte", es "möchten alle Beteiligten zu ruhiger Einsicht kommen und das Geschehen rückgängig machen".

Auf längere Sicht gesehen, erwies sich dieser Wunsch alles andere als wirklichkeitsfremd; vielmehr drängt er sich heutzutage als wichtiges Gebot der Vernunft geradezu auf. Starrsinniges Festhalten an den sogenannten "Benesch-Dekreten" und berechnendes Schüren der Angst vor einem neuen "deutschen Ostlandritt" vereiteln jedoch immer noch eine Korrektur der begangenen Fehler.

Die einst von ostkommunistischer Seite aufgestellte Behauptung, eine Rückkehr der vertriebenen Deutschen würde eine "zweite Vertreibung", nämlich der dort mittlerweile ansässigen Polen und Tschechen bedeuten, hat sich als ebenso unwahr herausgestellt wie der immer wieder erhobene "geschichtliche Anspruch" auf Ostdeutschland und die Sudetengebiete. Fundierte historische, wirtschaftsgeographische und bevölkerungsstatistische Untersuchungen haben dies längst klargestellt und den grundsätzlichen Überlegungen des Papst-Briefes vom 1. März 1948 recht gegeben. Die deutschen Bischöfe jener Zeit fanden sich im gleichen Zeugnis für die geschichtliche Wahrheit an der Seite Eugenio Pacellis und ihrer heimatvertriebenen Landsleute; zuletzt sehr beeindruckend im Jahre 1965, als sie unter interner Federführung des damaligen Bischofs von Eichstätt, Joseph Schröffer, am Rande des Vatikanischen Konzils den denkwürdigen Brief vom 5. Dezember 1965 an ihre polnischen Mitbrüder schrieben und in ihm das unverjährbare Recht auf Heimat der Vertriebenen formulierten.

Polnische Kreise verübelten Pius XII. die Erklärung

Während sich die deutschen Heimatvertriebenen damals in ihrer seelischen und geistigen Not durch das väterliche Wort des Papstes innerlich gestärkt und ermuntert fühlten, verübelten polnische Kreise dem Pontifex den Brief und hielten ihm in einer Erklärung vom Juni 1948 vorwurfsvoll entgegen:

"Der Papst hat es nicht als beispiellos befunden, als die Deutschen Millionen von Polen töteten und die Professoren und Gelehrten einer der ältesten europäischen Universitäten in Dachau und Oranienburg sterben ließen." Gleichsam eine später wieder aufgegriffene Anklage vorwegnehmend, fuhren die polnischen Papst-Kritiker in ihrem Protest fort: "Der Papst hat weder gegen die Gaskammern und Krematorien von Auschwitz, Majdanek und Treblinka protestiert noch diese ein in Europa ohne Beispiel dastehendes Verbrechen genannt."

Kardinalprimas Augustyn Hlond fühlte sich veranlaßt, diese scharfe Attacke der Krakauer Hochschullehrerschaft und 50 weiterer Kollegen aus ganz Polen in einem eigenen Hirtenbrief etwas abzuschwächen und seine polnischen Landsleute zu beruhigen. Sie sollten "in den neu gewonnenen Gebieten alle Beunruhigung fallen lassen und sich in dem Glauben bestärken, daß sie nicht vergeblich im Schweiße ihrer Arbeit Brachland fruchtbar gemacht und Industrien in Gang gesetzt" hätten.

Euphemistische und schönfärberische Formulierungen, wie "Brachland" und "Industrien in Gang gesetzt", bringen dem Unkundigen oder Nachgeborenen eine irreführende Vorstellung nahe und beabsichtigen, ihn die vorausgegangene Vertreibung der bisherigen Landarbeiter und Industriebetreiber aus den Augen verlieren zu lassen. Bei Primas Hlond war dies fast eine Neuauflage seiner täuschungsverdächtigen Ausdeutung päpstlicher "Vollmachten" im Jahre 1945, welcher deutsche Ordinarien und Kapitular-Vikare zum Opfer gefallen sind (JF berichtete).

Vermied Kardinal Hlond immerhin noch offensichtliche Unrichtigkeiten, indem er in nationalpolnischen Angelegenheiten mit Vieldeutigkeiten operierte, die er dann stets in seinem Sinne auszulegen verstand, hantierten die akademischen Papst-Kritiker von Krakau und anderen polnischen Hochschulen sogleich mit Zahlen, die Präzision vortäuschten und beschwerten sich in ihrem Protest gegen den Papst-Brief vom 1. März 1948 auch gegen die von Papst Pius XII. gemachte Angabe von "zwölf Millionen Deutschen", die aus Ostdeutschland und Polen vertrieben worden seien. Sie hielten dagegen:

"Die in der päpstlichen Botschaft an die deutschen Kirchenführer enthaltene Behauptung, es seien zwölf Millionen aus Polen ausgesiedelt worden, ist unrichtig. Es sind nur 2.155.000 Deutsche nach Deutschland umgesiedelt worden."

Mit dieser Gegendarstellung übernahmen die polnischen Beschwerdeführer unbesehen die falschen Zahlenangaben der kommunistischen Regierung in Warschau und machten sich damit im wahrsten Sinne des Wortes zum Sprachrohr der kommunistischen Menschenvertreiber. Der angesehene Zeithistoriker und renommierte Bevölkerungsstatistiker, Heinz Nawratil, hat in einer vielbeachteten Studie der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt (ZFI) schlüssig nachgewiesen, daß sogar mehr als "nur" 12 Millionen Menschen 1945 aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches geflohen und vertrieben worden sind. Unzutreffend wie die von der Warschauer Regierung angegebene Zahl ist auch die von ihr verwendete Bezeichnung "ausgesiedelt". Die ihr innewohnende Verharmlosung beleidigt die Millionen Vertreibungsopfer, die die Ost- und die Sudetendeutschen zu beklagen hatten.

Pius XII. gedachte in seinem Brief dieses Opferganges, wenn er von dem "furchtbaren Verhängnis" sprach, das über "die ostdeutsche Bevölkerung hereingebrochen ist". Und daß ihm diese Mitleidsbekundungen nicht wohlfeile Worte waren, erhellt die Erwähnung seiner persönlichen Erinnerungen: "Wir haben in den Tagen, da wir in eurem Vaterland wirkten, die glaubensfreudigkeit und Glaubenstreue der ostdeutschen Katholiken kennen- und schätzengelernt. Wie lebendig ist in uns noch vom Jahre 1926 her die Erinnerung an die stolze Heerschau des katholischen Deutschlands in Breslau, die ja der Hauptsache nach eine Heerschau des katholischen deutschen Ostens war, ein gewaltiger Ausdruck katholischen Denkens und treuer Hingabe an Kirche und Papst."

Schon 1948 kursierten falsche Vertriebenenzahlen

Die heimatvertriebenen Deutschen ermutigte Pius abschließend in seinem Brief, die bevorstehenden Jahres- und Gedenktage im Willen zum Neu- und Wiederaufbau zu begehen, und erwähnte namentlich die Siebenhundertjahrfeier der Grundsteinlegung des Kölner Doms, "seines mächtigen Wahrzeichens", die "Achthundertjahrfeier der Apostelbasilika von St. Matthias in Trier" und das hundertjährige Gedenken an den deutschen Katholikentag "im goldenen Mainz", um die persönliche Verbundenheit mit ihnen und ihrem leidvollen Schicksal nochmals in der Erinnerung auszudrücken: "Mit Ergriffenheit gedenken wir der Stunden, in denen bei unvergeßlichen Feiern die Weihe eurer Heiligtümer uns die Seele erfüllte, und Trauer bedrückt uns bei dem Gedanken, daß ihre Türme, wo sie noch stehen, heute weit hinaus in ein verwüstetes und hoffnungsarmes Land ragen." Worte, die den Brief nach 50 Jahren so kostbar machen und seinem Verfasser dankbares Gedenken sichern.


 
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