© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   12/98 13. März 1998

 
 
Erben der Illyrer: Ein lange fremdbestimmtes Volk rebelliert gegen serbischen Machtanspruch
Der neue Stolz der Kosovo-Albaner
von Hrvoje Lorkovic

Dionysios Areopagita stellte sich ein Volk als eine Art kollektiver Persönlichkeit vor, über die ein Schutzengel wacht, der es unsterblich macht. Was hätte er wohl über jene Völker gesagt, die auf der Weltbühne erscheinen, nur um von ihr bald wieder zu verschwinden oder um von Zeit zu Zeit aus der Versenkung aufzutauchen, mal unter dem einen, dann unter dem anderen Namen und kulturellen Gewand? Werden solche Völker vorübergehend von ihren Engeln verlassen, oder wechseln sich die Engel periodisch ab – etwa so wie Ideologien?

Heute weiß man, daß ganz Europa von Völkern bewohnt wird, die durch Mischung von Gruppen unterschiedlicher Herkunft und Lebensart entstanden sind. Seit grob gesagt anderthalb Jahrtausenden sind jedoch die meisten von ihnen verhältnismäßig stabil geblieben. Nicht so im Kosovo (das von den dortigen Albanern "Kosova" genannt wird). Seit ungefähr 38 Jahrhunderten von technisch und künstlerisch weit entwickelten illyrischen Stämmen bewohnt, wurde die Region zunächst von den Römern beansprucht und im Laufe von über zwei Jahrhunderten erbitterter Kriege unterworfen. Wer sich der imperialen Macht Roms nicht beugen wollte, floh in die Berge, von denen die Hochebene "Kosova" (oder: "Amselfeld") umgeben ist. Für ein Aufblühen der Zivilisation schien die Gegend ungeeignet gewesen zu sein und bekam deshalb viele in Rom als gefährlich eingestufte Legionärs-Veteranen zugewiesen, etliche davon aus Nordafrika.

Kaum war diese Phase vorbei, begannen sich vorwiegend als Ackerbauern tätige slawische Völkerschaften in dem Gebiet einzunisten. Gruppen von militärisch organisierten, bereits im Norden Europas slawisierten ehemaligen Steppenreitern wanderten im Verlauf des frühen Mittelalters ein und sorgten für eine Neuauflage der Staatsbildung in dieser Region. Der Stamm der Serben, der sich in der nordwestlich gelegenen Rascia ansiedelte, breitete sich mit der Zeit in der Kosovo-Ebene aus, während die an der heutigen Meeresküste Albaniens lebenden Kroaten immer mehr an Einfluß verloren. Die Blüte des serbischen Staates, die bald nach dem Tod Kaiser Dusans im Jahr 1355 aufhörte, fand mit der Schlacht auf dem Amselfeld von 1389 ein jähes Ende, als die Serben mit ihren Verbündeten von den Türken aufgerieben wurden. Durch diese Niederlage sind die Türken zu Erzfeinden der Serben geworden.

Was aus Sicht der Serben eine Katastrophe war, sahen die bis dato in den Bergen hausenden vertriebenen illyrischen Albaner als eine einmalige Chance an und zogen wieder in die Ebene ein, wo sie sich unter der Obhut des Osmanischen Reiches stärker zu vermehren begannen und mit anderen ethnischen Gruppen vermischten. Dennoch blieben im Kosovo während der Türkenzeit die Abgrenzungen im großen und ganzen erhalten. Mit jeder türkischen Niederlage gewannen die Serben in der Region wieder an Macht und Boden; die erhalten gebliebenen Kulturdenkmäler bekräftigten ihren Drang nach Wiedereinnahme dessen, was sie für das Eigene hielten, während die nomadisierenden Albaner keinen nennenswerten politischen Faktor darstellten, sondern den verschiedensten Eroberern und regionalen Machtgebilden (wie der Handelsstadt Dubrovnik) als Hilfstruppen, Bergführer oder Lastenträger dienten.

Eine besonders krasse Ausprägung der serbischen Perspektive dieses Raumes repräsentierte Vaso Cubrilovic, einer der Teilnehmer des Attentats von 1914 auf Erzherzog Franz Ferdinand. In seinem Memorandum "Die Vertreibung der Albaner" empfahl der Serbe im Jahre 1937 – damals war er Professor der Geschichte – der königlich-jugoslawischen Regierung die Methoden Hitlers und Stalins. Die Regierung sollte den Albanern das Leben so schwermachen, daß sie schließlich en masse nach Albanien und in die Türkei flüchten würden. Nach 1945 hielt Cubrilovic u.a. den Posten des jugoslawischen Landwirtschaftsministers inne, und nach Titos Tod bemühte er sich, den serbischen Nationalismus zu beleben.

Das Ergebnis der empfohlenen Behandlung der Kosovo-Albaner war für jeden sichtbar, der noch in den 50er Jahren seinen Militärdienst in der Region ableistete. Die serbischen Offiziere beschrieben die albanischen Männer gegenüber den von der Umgebung abgeschirmten auswärtigen Rekruten als äußerst gefährlich und grausam. Wenn dann aber nach einem halben Jahr die heimischen "Reservisten" einberufen wurden, konnte man sich vom wahren Tatbestand überzeugen: Die kleinwüchsigen, abgemagerten und sichtlich eingeschüchterten Gestalten waren kaum imstande, ein Gewehr zu halten.

Der kroatische Albanologe Milan Suflaj versuchte solcher Propaganda entgegenzuwirken und bezahlte dafür mit dem Leben. Immerhin kam es in den letzten Jahrzehnten des Tito-Regimes zu einer bedeutenden Verbesserung der Lebensbedingungen im Kosovo. Die heutigen Demonstranten in der Hauptstadt Prischtina oder auf den Dörfern sehen keineswegs abgehärmt aus. Im Gespräch mit Kosovo-Albanern spürt man keine Schüchternheit mehr, das Selbstvertrauen ist enorm gestiegen, manchmal bis hin zu einer Überheblichkeit, die als Reaktion auf die erlittenen Traumata zu deuten ist. Diese Leute fühlen sich als Nachkommen und Kulturerben jener Illyrer, die vor über zwei Jahrtausenden den ganzen Balkan bewohnten. Dementsprechend erinnern sie sich manchmal sogar daran, daß "eigentlich die ganze dalmatinische Küste uns gehören sollte, denn die Dalmaten waren ja ein illyrischer Stamm".

Das neue Selbstbewußtsein wird nicht nur von der Elite getragen, die ihre Schulung an der Universität von Prischtina erworben hat, sondern auch von vielen Gastarbeitern, die – klan-verbunden und gut organisiert – ihre Geschäfte besonders in der Juwelenbranche erfolgreich vorantreiben und die, so wird gemunkelt, auch im internationalen Drogenhandel maßgeblich mitmischen. Mit dieser Generation ist den Serben, die sich hartnäckig an ihren historischen "Anspruch" auf das Kosovo klammern, ein Feind erwachsen, den sie schwerlich mit den Methoden Cubrilovics loswerden können.


 
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