© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   12/98 13. März 1998

 
 
Pankraz, B. Gracián und die Suche nach dem starken Abgang

Michail Gorbatschows historischer Ausspruch "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben" findet in diesen Tagen in Bonn eine interessante Ergänzung: "Wer zu spät geht, den bestraft das Leben ebenfalls." In allen Quartieren, auch und vor allem im Hauptquartier der CDU, gibt es zur Zeit nur noch ein einziges Thema, nämlich wie die CDU/CSU Helmut Kohl als Kanzlerkandidaten für die kommende Bundestagswahl loswird. Mit Entsetzen erkennen die Paladine, daß jeder günstige Rückzugstermin bereits hoffnungslos verpaßt ist. Massive Strafe droht, so oder so.

Bleibt der Mann, ist eine furchtbare Wahlniederlage zu befürchten. Umfragen für die demnächst anstehenden Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt sehen die CDU schon weit unter dreißig Prozent, hoffnungslos abgeschlagen hinter SPD und PDS. Langjährige Diätenverzehrer sind in Panik. Wie aber einen würdigen Abgang für H. K. finden? Was man sich auch ausdenkt, es bleibt doch immer nur ein Abgang unter ziemlichem Gelächter.

Das Szenario, das in der CDU-Fraktion die meisten Anhänger hat, läuft unter dem Stichwort "Euro-Glanz". Anfang Mai, wenn die Teilnehmer am Euro verkündet werden, solle, so wird gefordert, der Kanzler, gleichsam überwältigt von der historischen Fülle des Augenblicks, von sich aus seinen Rücktritt einreichen, damit Schäuble zu seinem Nachfolger ernannt werden kann. Kohl könne dann ja, heißt es, sein "Lebenswerk" für abgeschlossen erklären und als "Monsieur Europa" stolz in die Pension abdampfen. Der zu erwartende Sympathie-Effekt sei enorm und könnte elegant auf die Mühle der jetzigen Koalition umgeleitet werden.

Der Schönheitsfehler an diesem Szenario ist freilich, daß der "Glanz", den der Euro angeblich ausstrahlt, lediglich in der Phantasie der Bonner Koalitionäre existiert. Die Wähler ihrerseits haben längst begriffen, daß ihnen eine schlechtere Währung als die, die sie bisher hatten, untergeschoben wird, daß ihre Sparguthaben innerhalb kürzester Frist enorm an Wert verlieren werden, daß ein riesiger Raubzug auf ihr Erspartes stattfindet. Wie sollen da Sympathiewerte entstehen? Es wird im Gegenteil zusätzlichen Frust geben nebst deftigen Kommentaren von der Art: "Da geht er ab zu seinen wohlgefüllten Pensionärs-Fleischtöpfen, und uns läßt er die magere Suppe auslöffeln."

Dann schon lieber mit fliegenden Fahnen untergehen", meint eine – allerdings recht kleine – Fraktion innerhalb der Fraktion. Helmut Kohl, so vernimmt man von dieser Seite, habe doch wahrhaftig nichts mehr zu verlieren, sei lange genug die Nummer eins gewesen und habe alle Höhen und Tiefen der Macht bis zur Neige ausgekostet. Folglich könne er jetzt zum Schluß in aller Sorgfalt einen spektakulären Coup inszenieren, um als gewissermaßen flammender Heros in die Geschichtsbücher einzugehen.

Was ist damit gemeint? Nun, wenn Pankraz richtig zugehört hat, dann soll Kohl einen ausgesprochenen Blut-und-Tränen-Wahlkampf führen. Alle Lügen, Schönrednereien, Versprechungen, alle durchsichtigen Verbal-Tricks, wie sie in Wahlkämpfen üblich sind, soll er sich sparen, soll dem Publikum stattdessen in brutaler Ungeschminktheit entgegentreten und ihm, mit einigen Varianten, immer wieder etwa folgendes einbleuen:

"Liebe Mitbürger, es kommen ganz und gar beschissene Zeiten, wen ihr auch wählen mögt. Die Sozialleistungen müssen herunter, ohne daß dadurch gleich neue Arbeitsplätze entstehen werden. Die Renten sind keineswegs sicher, sondern aufs Höchste gefährdet. Die Gesundheitskosten explodieren weiter. Im Bildungswesen sind gewaltige Investitionen nötig, für die wir das Geld nicht haben, so daß wir Studiengebühren erheben müssen. Alles wird zunächst teurer, ohne dadurch automatisch besser zu werden. Ja, die Zeiten werden wirklich hart, und wir müssen uns selber hart machen, um sie ohne allzu große Verluste zu überstehen."

"Ein solches Reden", sagt der Abgeordnete A., "verbunden mit einer überzeugenden Demonstration, daß man bei sich selber den Anfang macht mit dem Sicheinschränken, und verbunden mit der Versicherung, daß man, um sich nicht auch noch die Härten einer überflüssigen Währungsreform aufzuladen, den Euro um einige Jahre verschieben werde – ein solches Reden würde zwar nicht unbedingt den Wahlsieg garantieren, aber es würde ein völlig neuartiges Klima im Lande erzeugen, ein Klima des Ernstes, der Wahrheit und des nationalen Zusammenstehens. Kohl hätte einen eindrucksvollen Abgang, als mindestes . . ."

Soweit also das Hörensagen aus dem Bonner Adenauerhaus. Die Leute müssen schon ziemlich verzweifelt sein, wenn sich in ihren Reihen solche Herostraten vernehmbar machen. Die überwältigende Mehrheit würde dergleichen natürlich nicht dulden, selbst wenn der Kanzler dazu tatsächlich Lust kriegen sollte. Außerdem: Wer als Pudding die Arena betritt, kann sie nicht als Mehrstufenrakete verlassen. Alles wird beim Alten bleiben. Man wird gemeinsam der wohlverdienten Schlappe entgegenmarschieren, wird vorher noch einmal die Transparente mit den nur allzu bekannten Phrasen entrollen, wird mit den Papierfähnchen in der Luft herumschwenken, mehr wird es nicht geben.

Aber andererseits (um auch noch was Allgemeines und Besinnliches anzufügen): "Ein schöner Abgang", notiert der gar nicht zu überschätzende Balthasar Gracián, "ist mindestens ebenso viel wert wie ein kühner Angriff. Schließlich muß man im Leben seine Taten, wenn ihrer viele sind, wenn ihrer genug sind, in Sicherheit bringen, weil sonst alles umsonst gewesen ist."

Schopenhauer, der diese Worte zustimmend in seine Kladde schrieb, fügte hinzu: "In Sicherheit bringen – das heißt, sie in die rechte Beleuchtung bringen. Oft, vielleicht sogar immer, ist es die Art, wie wir abtreten, die über unsere Taten, über die Erinnerung an sie entscheidet." Aber so ernst wird es in Bonn wohl kaum jemand meinen.


 
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