© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   12/98 13. März 1998

 
 
"Feindliche Nähe": Ein Briefwechsel zwischen den Historikern Francois Furet und Ernst Nolte über die totalitären Herrschaftssysteme im 20.Jahrhundert
Die Schwierigkeiten mit der eigenen Geschichte

20. Februar 1996

Sehr geehrter Herr Kollege Furet,

(…) Es wurde mir sehr rasch klar, daß dieses Ihr Buch ("Das Ende der Illusion", d. Red.) von den zwei Sperren oder Hindernissen frei war, die in Deutschland alles Nachdenken über das 20. Jahrhundert in einen engen Raum einschließen und es dadurch, bei allen tüchtigen Leistungen im einzelnen, als solches impotent machen. In Deutschland ist dieses Nachdenken nämlich von vornherein so gut wie ausschließlich auf den Nationalsozialismus konzentriert, und da dessen katastrophale Folgen evident sind, treten nur allzuleicht Formeln an die Stelle des Denkens – Formeln wie "Wahnideen", "deutscher Sonderweg" oder "Tätervolk". Zwar gab es zwei Denkweisen, die über den deutschen Zaun hinüberblickten, aber die eine, die Totalitarismustheorie, galt in den Augen aller "Progressiven" seit der Mitte der sechziger Jahre als veraltet oder gar als Kampfinstrument des Kalten Krieges, und die andere, die marxistische, wurde nur selten mit derjenigen Konsequenz entwickelt, die das Dritte Reich als bloßen Teil eines größeren und insofern noch schuldigeren Ganzen hätte erscheinen lassen, etwa des okzidentalen Imperialismus oder der kapitalistischen Weltmarktwirtschaft.

Die deutsche Linke hatte nämlich kein eindeutiges Verhältnis zu ihrer Geschichte, weil diese Geschichte selbst nicht eindeutig gewesen war. Es gab kein großes Ereignis, mit dem man sich vorbehaltlos hätte identifizieren können, denn die Freiheitskriege gegen das napoleonische Frankreich hatten, wie man meinte, "reaktionäre" Motive, und die Revolution von 1848 war "gescheitert". Mit der russischen Revolution aber hatte sich nur ein kleiner Teil der deutschen Linken identifiziert, und der weitaus größere Teil, die Mehrheitssozialdemokratie, war den Versuchen einer Ausdehnung auf Deutschland in der Praxis und auch in der Theorie mit Entschiedenheit entgegengetreten. Wenn man freilich den Enthusiasmus und die Glaubensstärke, die innerhalb der Linken zu verzeichnen waren, quantifizieren könnte, würde der Kommunistischen Partei Deutschlands wohl die größere Hälfte zuzumessen sein, denn die Sozialdemokraten führten den Kampf gegen die Kommunisten nur mit "schlechtem sozialistischem Gewissen", wie man sagen könnte, und die KPD war die einzige Partei in Deutschland, die von Wahl zu Wahl erheblich zunahm, selbst bei den Novemberwahlen des Jahres 1932, in denen die Nationalsozialisten so starke Verluste erlitten. Aber sogar unter den jungen Neomarxisten der siebziger Jahre waren die Stimmen nicht sehr zahlreich, welche im Rückblick einen Sieg der Kommunisten um die Jahreswende 1932/33 für möglich hielten und den Sozialdemokraten "Verrat" vorwarfen. Eben dies war ja mit entgegengesetzter Akzentuierung die These des "rechten" Antikommunismus, die man auch im nachhinein nicht akzeptieren konnte, nämlich daß der Kommunismus eine reale Gefahr gewesen sei und daß deshalb der Nationalsozialismus so viel Stärke gewonnen habe. Doch auch den großen Parteien der in Bonn wiederhergestellten "Weimarer Demokratie" mußte nach 1945 die entsprechende Auffassung falsch und gefährlich erscheinen, weil sie so viel Ähnlichkeit mit der nationalsozialistischen These von der "Rettung Deutschlands vor dem Bolschewismus" aufwies und weil man doch selbst gewillt war, im Bündnis mit den Vereinigten Staaten den Angriff des "totalitären Stalinismus" und seiner deutschen Anhänger in Ost-Berlin zurückzuweisen. Zwar wies die Totalitarismustheorie den Ausweg, einen "demokratischen" Antikommunismus von einem "totalitären" abzuheben, aber deren Vorherrschaft dauerte nicht sehr lange, und danach stimmten von rechts bis links und von der Publizistik bis zur Wissenschaft nahezu sämtliche Wortführer darin überein, die ganze Aufmerksamkeit auf den Nationalsozialismus zu konzentrieren und allenfalls am Rande vom "Stalinismus", keinesfalls aber von einer "kommunistischen Weltbewegung" zu sprechen. Eben darin bestanden die zwei "Sperren", von denen ich gesprochen habe.

Sie dagegen gehen in Ihrem Buch von der "kommunistischen Idee" aus und sehen in ihr die stärkste ideologische Realität des Jahrhunderts. Sie beschränken sie nicht auf Rußland, wo rasch eine pragmatische Außenpolitik maßgebend geworden sei, sondern Sie sprechen vom "charme universel d’Octobre", der auch und gerade in Frankreich für zahlreiche Intellektuelle eine begeisternde Kraft gehabt habe. Sie können das tun, weil Sie von der französischen Linken herkommen, welche, anders als ihr deutsches Gegenstück, in der nationalen Geschichte ein großes Ereignis hatte, auf das sie sich unablässig berief, nämlich die Französische Revolution, und weil sie von hier aus die russische Revolution als Konsequenz und Entsprechung auffassen konnte, mit der sie ohne alles schlechte Gewissen mindestens zu sympathisieren vermochte, wenn sie sich nicht sogar vorbehaltlos damit identifizierte. So war es alles andere als ein Zufall, daß fast die ganze Sozialistische Partei 1920 auf dem Parteitag in Tours zur Dritten Internationale überging und daß die großen Historiker der Französischen Revolution wie Aulard und Mathiez dieser Weltbewegung ihre Sympathie zuwandten und sogar zu Anhängern wurden. Aber auch die anderen Persönlichkeiten, die Sie besonders hervorheben, Männer wie Pierre Pascal, Boris Souvarine oder Georg Lukács, waren Enthusiasten und Überzeugte, und Sie selbst versagen diesem Enthusiasmus Ihre Anteilnahme und Sympathie offensichtlich nicht. Zwar zerstörte die geschichtliche Realität bei Pierre Pascal und Boris Souvarine sowie bei vielen anderen diesen Glauben, und Sie selbst folgen den Spuren dieser Dissidenten, aber trotz der Abstandnahme sehen Sie in der russischen Oktoberrevolution und ihren weltweiten Ausstrahlungen nach wie vor das politische Fundamentalereignis des 20. Jahrhunderts. Sie verfolgen diese Ausstrahlungen so lange, bis diese, vom Ringen mit den vielfältigen Realitäten erschöpft, ihre innere Kraft verlieren und nun definitiv als dasjenige erkennbar werden, was sie ob ihres utopischen Charakters von Anfang an waren, nämlich als "Illusion".

Sie vollziehen aber noch einen zweiten Schritt, der in meinen Augen nicht weniger wichtig ist. Wenn das Fundamentalereignis des Jahrhunderts sich schließlich als Illusion erweist, dann können sogar die militanten Reaktionen, die dadurch erzeugt wurden, nicht jenseits aller Verstehbarkeit und vollständig ohne ein historisches Recht gewesen sein, dann muß es als ein ungerechtfertigter Überrest der kommunistischen Auffassung gelten, wenn man "die andere faszinierende Kraft des Jahrhunderts nur noch als Verbrechen" wahrnehmen will. Mit dieser Einschätzung des "anderen großen Mythos des Jahrhunderts", nämlich des faschistischen Mythos, werden Sie sogar in Frankreich viel Widerspruch finden, während Sie im heutigen Deutschland rasch zu einer "Unperson" gemacht werden würden. Dennoch haben Sie nach meiner Meinung vollständig recht, da Ihnen vernünftigerweise niemand die Auffassung unterstellen kann, die Auseinandersetzung zwischen der kommunistischen Idee und der faschistischen Gegen-Idee sei der einzige Inhalt der Geschichte des Jahrhunderts zwischen 1917 und 1989/91 gewesen oder "der" Faschismus sei als eine Art platonischer Idee ohne die mannigfaltigen Differenzen und Vorbedingungen zu betrachten, die alle historischen Wirklichkeiten und auch die Wirklichkeit der kommunistischen Weltbewegung bestimmten.

Ich bin auf einem ganz anderen Weg als Sie zu der Überwindung jener beiden "Sperren" und damit zur Ausarbeitung der (im Umriß längst vorhandenen) Konzeption des ideologischen Weltbürgerkriegs des 20. Jahrhunderts gelangt. Auch ich wäre in der Konzentration auf den Nationalsozialismus und dessen "deutschen Wurzeln" steckengeblieben, wenn ich nicht durch zufällige Umstände auf den jungen Mussolini und die Einflüsse sowohl von Marx wie von Nietzsche auf sein sozialistisches Denken gestoßen wäre. Nur deshalb konnte "der Faschismus" für mich in dem Buch von 1963 zum Gegenstand werden, und in der allgemeinen Bestimmung des Faschismus als militanter Gestalt des Antimarxismus sowie in der speziellen Definition des Nationalsozialismus als "Radikalfaschismus" war alles, was ich seither gedacht und geschrieben habe, potentiell enthalten. Aber was für Sie der Ausgangspunkt war, nämlich die "kommunistische Idee", blieb für mich lange Zeit nicht viel mehr als ein nicht eigens explizierter Hintergrund, und das wurde erst 1983 mit Marxismus und Industrieller Revolution sowie vornehmlich 1987 mit dem Europäischen Bürgerkrieg 1917–1945 anders. So sind wir, wenn ich mich nicht täusche, von verschiedenen Ausgangspunkten und auf verschiedenen Wegen zu derjenigen Konzeption gelangt, die ich die "historisch-genetische Version der Totalitarismustheorie" nenne und die sich von der politologisch-strukturellen Version Hannah Arendts und Carl J. Friedrichs fast ebensosehr unterscheidet wie von der marxistisch-kommunistischen Theorie.

Es kann allerdings so aussehen, als gebe es einen sehr gravierenden Differenzpunkt zwischen uns. Sie schreiben in der erwähnten Anmerkung, es sei traurig, daß ich meine Interpretation überzogen und für die "antisemitische Paranoia" Hitlers "eine Art von rationaler Begründung" gegeben hätte. Ich brauche Ihnen gegenüber gewiß nicht zu betonen, daß in der singulären Massenvernichtung der "Endlösung der Judenfrage" für die deutsche Konzentration auf den Nationalsozialismus schwerwiegende Gründe gegeben sind. Sie werden mir Ihrerseits sicherlich zugestehen, daß in der Geschichte auch das Singuläre nicht als ein "Absolutum" gelten und behandelt werden darf. Ich füge hinzu: Ein singuläres Massenverbrechen wird nicht dadurch weniger schlimm und weniger verwerflich, daß dafür eine rationale, nachvollziehbare Begründung gegeben werden kann; eher ist das Gegenteil der Fall. (…) Ich meine nun, daß auch die "Endlösung" nicht verstehbar – im Unterschied zu "verständlich" – gemacht werden kann ohne eine Bezugnahme auf den "jüdischen Messianismus" als solchen und auf die Vorstellung, die Adolf Hitler und nicht ganz wenige seiner Anhänger sich davon machten. Deshalb glaube ich nicht, daß die Differenz zwischen uns unaufhebbar ist. (…)

In Deutschland wird es aller Vermutung nach als ein Versuch der Herabsetzung oder sogar der Inkriminierung betrachtet werden, wenn ich Ihnen sage, daß ich mich selbst kaum weniger als Sie zu Ihrem Buch beglückwünsche; ich glaube jedoch, daß Vorurteile und Nervosität in Ihrem Lande weniger stark sind als in dem meinen.

Ernst Nolte

3. April 1996

Sehr geehrter Herr Kollege Nolte,

als ich Ihnen eine lange Anmerkung widmete, war ich mir durchaus bewußt, daß ich damit in Ihrem Lande, aber auch darüber hinaus, eine feindselige Stimmung meinem Buch gegenüber auslösen würde. Dies ist auch so eingetreten; allein die Tatsache, daß ich Sie zitiert habe, hat bei der Linken geradezu einen "pawlowschen" Reflex hervorgerufen. Selbst so unterschiedliche angelsächsische Historiker wie Eric Hobsbawm und Tony Judt haben mir schon die Tatsache zum Vorwurf gemacht, daß ich nur Ihren Namen zitiert habe, ohne es für nötig zu halten, diese Exkommunikation zu rechtfertigen. Man muß den Bann dieses magischen Gedankengangs brechen; darum bereue ich mein Tun weniger denn je. Zunächst einfach aus professionellen Motiven, da ich gerade Fragen behandelte, über die Sie seit langem viel geschrieben haben. Ihr Buch "Der Faschismus in seiner Epoche" (1963) hatte mich schon vor dreißig Jahren, nachdem es auf französisch erschienen war, sehr interessiert. Abgesehen von diesem Respekt für die Regeln unseres Fachs werfen Ihre Bücher auch so viele Probleme auf, die für das Verständnis des 20. Jahrhunderts unabdingbar sind, daß es von großer Verblendung zeugt, sie pauschal zu verdammen.

In der Tat findet diese Verblendung ihren sichtbarsten Ursprung in der Zwangsvorstellung vom Nazismus, welche die demokratische Tradition seit einem halben Jahrhundert beherrscht, als ob der Zweite Weltkrieg dessen historische und moralische Bedeutung immer weiter deutlich machen würde. In der Tat ist diese Zwangsvorstellung, statt in dem Maße zurückzugehen, wie man sich von den Ereignissen entfernte, die ihnen zugrunde lagen, vielmehr in den 50 Jahren, die uns davon trennen, noch gewachsen, und zwar als das wichtigste Kriterium, um die guten Bürger von den "bösen" zu unterscheiden (um für einen Moment auf das Vokabular der Französischen Revolution zurückzugreifen). Ja, sie hat sogar imaginäre Faschismen entstehen lassen, weil man auch nach der Niederlage von Hitler und Mussolini noch spätere Verkörperungen des Faschismus finden wollte.

Die Verbrechen des Nazismus waren so gewaltig, und sie waren am Ende des Krieges so universell offenkundig, daß es zweifelsohne nützlich und sogar notwendig ist, die Erinnerung daran aus pädagogischen Gründen wachzuhalten, selbst noch lange nachdem die Generationen, die diese Verbrechen begangen haben, verschwunden sind. Die öffentliche Meinung ist sich nämlich mehr oder weniger deutlich bewußt, daß diesen Verbrechen etwas spezifisch Modernes anhaftet, daß sie Gemeinsamkeiten mit bestimmten Zügen unserer Gesellschaft aufweisen und daß man umso wachsamer eine mögliche Wiederholung verhindern muß. Dieses Entsetzen vor uns selbst bildete den Nährboden für die antifaschistische Obsession und war zugleich ihre beste Rechtfertigung.

Aber sie ist von Anfang an auch von der kommunistischen Bewegung instrumentalisiert worden. Am deutlichsten und nachhaltigsten war diese Instrumentalisierung kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Geschichte infolge der Niederlage Hitlers Stalin ein Demokratiezeugnis auszustellen schien, so als ob der Antifaschismus, eine rein negative Bestimmung, als Garant für die Freiheit genügen würde. Dadurch hat die antifaschistische Zwangsvorstellung ihrer notwendigen Rolle eine unselige Wirkung hinzugefügt. Sie hat eine Analyse der kommunistischen Regime wenn nicht unmöglich gemacht, so doch zumindest erschwert.

Ihrer Ansicht nach ist diese Verblendung in der deutschen Linken und sogar ganz allgemein in Deutschland besonders total, und zwar aus Gründen, die teilweise sehr offensichtlich sind. Der Nazismus war eine deutsche Apokalypse, die Ihr Land seiner Tradition beraubt und es in ein beispielloses Unglück gestürzt hat, welches durch die allgemeine Verdammung noch vergrößert wurde. Man kann leicht verstehen, warum die kollektiven politischen Gefühle fast ausschließlich von dieser nationalen Tragödie mobilisiert wurden. Ebenso leicht ist es einzusehen, warum die antikommunistische Argumentation einer Art Tabu unterworfen war, da sich bereits Hitler ihrer bedient hatte. Dasselbe Phänomen kann man, mutatis mutandis, auch in Italien beobachten, und zwar aus denselben Gründen.

Dennoch frage ich mich, ob Sie in Ihrem Brief nicht die Analyse des deutschen Ausnahmefalls in dieser Hinsicht etwas übertreiben. Schließlich war der Faschismus, in seiner nazistischen Form, auch in meinem Land und ganz allgemein im demokratischen Europa für jeden Historiker ein mehr oder weniger tabuisiertes Thema. Damit meine ich, daß die moralische Verurteilung, der die beiden Regime unterlagen, verhinderte, die Popularität, die sie in der Zeit zwischen den Weltkriegen genossen hatten, zu studieren oder auch nur wahrzunehmen. Ebensogroß war das Tabu, mit dem jede vergleichende Analyse oder auch nur jede Vorstellung von einer wechselseitigen Abhängigkeit zwischen Kommunismus und Faschismus behaftet war, selbst wenn es nicht die gleichen Gründe hatte. (…) Die Existenz einer "antifaschistischen" marxistischen Tradition ist der deutschen Kultur nicht fremd. Eben diese Tradition hat der ehemaligen DDR zur intellektuellen Legitimation gedient.

Was auch immer die jeweilige Situation der französischen und der deutschen Historiker hinsichtlich des Verständnisses vom 20. Jahrhundert war, ist es klar, daß die Obsession des Faschismus und damit des Antifaschismus von der kommunistischen Bewegung als Mittel instrumentalisiert worden ist, um die eigene Realität vor den Augen der öffentlichen Meinung zu verbergen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, diese Sichtweise, welche die Macht einer Theologie erlangt hat, in Frage zu stellen, um sich der realen Geschichte des Faschismus und des Kommunismus zu nähern. In dieser Hinsicht haben Sie den Weg gebahnt, und mit dem Verfließen der Zeit wird das in zehn oder fünfzig Jahren, wenn wir mehr Abstand gewonnen haben, für jedermann klar sein.

Obwohl ich aus einer anderen Richtung komme, versuche ich, ebenso wie Sie, die seltsame Faszination, welche die beiden großen ideologischen und politischen Bewegungen – nämlich der Faschismus und der Kommunismus – in unserem Jahrhundert ausgeübt haben, zu begreifen. Sie konzentrieren die Aufmerksamkeit auf den Faschismus, während ich versuche, die Verführungskraft, die die kommunistische Idee auf die Gemüter der Menschen ausgeübt hat, zu begreifen. Aber niemand kann eins der beiden Lager verstehen, wenn er nicht auch das andere berücksichtigt; so sehr hängen diese nämlich in ihren Vorstellungen, ihren Leidenschaften und der globalen historischen Realität voneinander ab.

Diese gegenseitige Abhängigkeit kann auf verschiedene Weise untersucht werden: unter dem Blickwinkel der Ideen, der Leidenschaften und der Regime zum Beispiel. Der erste Aspekt veranlaßt uns zu analysieren, inwiefern die demokratische Politik hin- und hergerissen wurde zwischen dem Prinzip des Universellen einerseits und dem des Partikularen andererseits, oder, um mit Ihren Worten zu sprechen, zwischen der Transzendenz und der Immanenz: ein philosophischer Antagonismus, der die Leidenschaften der wechselseitigen Feindschaft verstärkt hat. Die faschistische Bewegung hat sich vom Antikommunismus genährt und die kommunistische Bewegung vom Antifaschismus. Aber beide teilten den Haß auf die bürgerliche Welt, der ihnen erlaubte, sich miteinander zu verbünden. Schließlich lieferte der Vergleich zwischen den beiden Regimen – dem bolschewistisch-stalinistischen Regime und dem Hitlerregime – schon seit den dreißiger Jahren Stoff für eine umfangreiche Literatur, der Hannah Arendt nach dem Kriege die bekanntesten (aber nicht die einzigen) Argumente gegeben hat.

In meinem Buch habe ich versucht, all diesen Aspekten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Wie Sie sehr richtig gesehen haben, stehe ich in dieser Hinsicht Ihrer Interpretation näher als der von Arendt. Das Konzept des Totalitarismus erlaubt zwar, dasjenige an den Regimen Stalins und Hitlers zu vergleichen, was vergleichbar ist, aber es reicht nicht aus, ihre unterschiedlichen Ursprünge zu erklären. (…) Ich persönlich sehe in den beiden Bewegungen zwei potentielle Ausformungen der modernen Demokratie, die aus derselben Geschichte hervorgehen.

Lenin ergriff die Macht 1917, Mussolini 1922, und Hitler scheiterte 1923 und war zehn Jahre später erfolgreich. Demnach konnte Mussolinis Faschismus durchaus als "Reaktion" auf die Bedrohung durch einen italienischen Bolschewismus gesehen werden, der ebenfalls aus dem Krieg hervorgegangen war und mehr oder weniger in den Spuren seines russischen Vorbildes wandelte. Ebensogut kann man aus dem Nazismus eine Antwort auf die deutsche Zwangsvorstellung der "Komintern" machen, eine Antwort gemäß der revolutionären und diktatorischen Erscheinungsform des Kommunismus. Dieser Interpretationsansatz enthält einen Teil der Wahrheit, soweit die Angst vor dem Kommunismus tatsächlich einen Nährboden für die faschistischen Parteien gebildet hat, aber meiner Meinung nach eben nur einen Teil; denn sie hat den Nachteil, daß sie alles Endogene und Besondere an den einzelnen faschistischen Regimen verhüllt zugunsten all jener Dinge, die sie gemeinsam bekämpfen. Die kulturellen Elemente, aus denen sie sich eine "Doktrin" zusammengestellt hatten, existierten schon vor dem Ersten Weltkrieg und damit vor der Oktoberrevolution. Mussolini hat nicht bis 1917 gewartet, um die Verknüpfung der revolutionären Idee mit der nationalen zu erfinden. Die deutsche extreme Rechte und sogar die Rechte insgesamt brauchten den Kommunismus nicht, um die Demokratie zu verabscheuen. Die Nationalbolschewiken haben Stalin bewundert. Ich will gern zugeben, daß für Hitler der Haß auf den Bolschewismus Vorrang hatte, allerdings lediglich in seiner Eigenschaft als Endprodukt der bürgerlich-demokratischen Gesellschaft. Übrigens haben einige seiner engsten Getreuen, wie z. B. Goebbels, kein Geheimnis daraus gemacht, daß sie Paris und London mehr verabscheuten als Moskau.

Darum bin ich der Ansicht, daß die These vom Faschismus als eine auf den Kommunismus "reagierende" Bewegung nur einen Teil des Phänomens erklärt. Sie vermag es nicht, die italienische oder deutsche Singularität zu erhellen. Vor allem erlaubt sie nicht zu begreifen, was die beiden faschistischen Bewegungen an Ursprüngen und Wesenszügen mit dem verhaßten Regime gemeinsam gehabt haben. (…) Allerdings füge ich noch hinzu, daß Sie sich, wenn Sie dem Bolschewismus gegenüber dem Faschismus nicht nur eine chronologische, sondern auch eine kausale Priorität zuschreiben, dem Vorwurf aussetzen, den Nazismus in gewisser Weise entschuldigen zu wollen. Die Behauptung, daß "der Gulag vor Auschwitz existiert hat", ist nicht falsch, und sie ist auch nicht irrelevant, aber sie hat nicht die Bedeutung einer Beziehung von Ursache und Wirkung.

Ebensowenig kann ich Ihrer Analyse der "rationellen Beweggründe" für Hitlers Antisemitismus zustimmen. Es stimmt zwar, daß die Existenz zahlreicher Juden in den verschiedenen Führungsstäben des Kommunismus – an erster Stelle der russischen Partei – eine erwiesene Tatsache ist. Aber Hitler und die Nazis waren keineswegs auf dieses Argument angewiesen, um ihrem Haß auf die Juden, der älter war als die Oktoberrevolution, Substanz zu verleihen. Im übrigen hatte Mussolini, den sie so hoch schätzten, bereits vor ihnen einen antikommunistischen Faschismus zum Sieg geführt, der nicht antisemitisch war. Auch hier liegt eine Differenz vor, die mich von Ihnen trennt, nämlich hinsichtlich der Ursprünge des Nazismus, die älter und spezifischer deutsch waren als die Feindschaft gegenüber dem Bolschewismus. (…)

François Furet


 
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