© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   12/98 13. März 1998

 
 
Dokumentation: Michail Gorbatschow zur Wiedervereinigung und Bodenreform
"Das klingt einfach absurd"

Am vorvergangenen Sonntag hielt der frühere Generalsekretär der KPdSU und Ex-Staatschef der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, eine Rede vor rund 2.000 Zuhörern im Berliner Congress Centrum zur deutschen Wiedervereinigung 1989/90 und der Bodenreform in der SBZ von 1945/49 (die JF 11/98 berichtete). Wir dokumentieren diese Passagen seiner Rede in einer stark gekürzten Fassung:

Das Thema meines Vortrags ist die Wiedervereinigung Deutschlands. Wie war das und was bedeutete sie? Nicht nur für die Deutschen, sondern auch für Rußland, Europa und für die Welt. Es war ein Ereignis von enormer Tragweite. Es kennzeichnete den Abschluß einer ganzen Etappe in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Zugleich eröffnete es die Wege für verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten in Europa und in der Welt. Zunächst stellen wir uns die Frage: War denn die Teilung Deutschlands nach dem Krieg unvermeidlich? (…)

Ich habe nicht vor, auf das ständige Auf und Ab des deutschen Problems einzugehen, ich möchte nur ganz kurz sagen: die Einheit Deutschlands wurde eines der ersten Opfer des Kalten Krieges. Jedoch, obwohl die Deutschen gezwungen waren, an dem Kalten Krieg gegeneinander teilzunehmen, war der Gedanke an die Einheit in ihrem Bewußtsein, in ihren verborgenen Absichten nie erloschen. Das war eine der wichtigsten Voraussetzungen für die künftige Vereinigung!

Wie stellte sich für uns in der UdSSR die deutsche Frage zum Anfang der Perestroika dar? (…) Zu dem Zeitpunkt, als ich die Staats- und Parteiführung übernahm, hatte sich das Verhältnis der Sowjetunion zu den Deutschen sehr stark verändert. Die Sowjetunion war zur Wiedervereinigung nicht bereit. Niemand hat damals damit gerechnet, auch die Deutschen nicht!

Die Bundesrepublik war übrigens einer der letzten großen Staaten, deren Führungen in unserer Perestroika eine Chance für die Wandlung, für die Veränderung der ganzen internationalen Lage erkannten. Das hat uns nicht gestört. Im Mai 1987, anläßlich des bevorstehenden Besuches des Bundespräsidenten von Weizsäcker in Moskau, wurde beschlossen, das Potential des Moskauer Vertrages wiederzubeleben. Während des Treffens mit Herrn von Weizsäcker fielen Worte von einem neuen Kapitel in unseren Beziehungen. (…) Damals habe ich zu Bundespräsident von Weizsäcker gesagt: "Die Geschichte wird entscheiden. Nach dem Krieg hatte die Geschichte nun einmal so entschieden. Warten wir ab, ob sie es sich vielleicht noch einmal anders überlegt."

Die Teilung einer großen Nation ist nicht normal

Was verbarg sich hinter diesem Spruch? Erstens die Einsicht, daß die gewaltsame Teilung einer großen Nation nicht normal ist. Und daß es nicht angeht, die ganze Nation zu einer ewigen Strafe zu verdammen für Verbrechen, die ihre Führer in der Vergangenheit begangen haben. Und zweitens: Die Absicht, den Bundeskanzler zum Nachdenken darüber anzuregen, ob seine Handlungsweise richtig sei, bei der Entwicklung neuer Beziehungen zu Moskau hinter allen anderen zurückzubleiben.

Helmut Kohl hat reagiert. Er hat selbst die Initiative ergriffen, wir trafen uns in Moskau im Oktober 1988. Von da an wurden die deutsch-sowjetischen Beziehungen durch persönliches Vertrauen und Verständigung und sogar beiderseitige Sympathie bereichert. (…) Um die Wiedervereinigung Deutschlands ging es bei diesem ersten Treffen natürlich nicht. (…)

Bald darauf nahmen die Ereignisse einen unaufhaltsam schnellen Lauf. In Moskau hat man schon immer von den Bestrebungen der Deutschen in der DDR nach Wiedervereinigung gewußt. Das war deutlich erkennbar. Selbst in Parteiführungskreisen. Und diese Bestrebungen nahmen unter dem Einfluß der Demokratisierungsbestrebungen in der UdSSR zu. Die Demokratisierung verwandelte die Hoffnungen, die Erwartungen in etwas ganz real Mögliches. Aber daß diese Erwartungen und Hoffnungen gerade vom Sommer bis Herbst 1989 zum Durchbruch kamen, das lag ohne Zweifel an dem radikalen Umbruch in den Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik, Europa und der Welt generell.

Ich werde sehr oft gefragt, wann genau – manche wollen sogar wissen, an welchem Datum, an welchem Tag genau – ich eigentlich in die Wiedervereinigung eingewilligt habe. So einen Tag gibt es einfach nicht. Wir handelten einfach im Geiste des neuen Denkens. (…)

Ich muß sagen, daß für das Verständnis der damaligen Situation die Haltung der Ostdeutschen eine ganz besondere Rolle gespielt hat, so wie sie während der Feierlichkeiten des 40jährigen Bestehens der DDR hier in Berlin zum Ausdruck gekommen ist. Als ich an diesem Abend damals auf der Tribüne stand, neben führenden Persönlichkeiten der DDR und Persönlichkeiten der Staaten des Warschauer Vertrages, sahen wir den Fackelzug mit Vertretern von sämtlichen Bezirken der DDR. Sie zogen an uns vorbei und ich sah, mit welcher Stimmung, wie frei, wie zuversichtlich diese jungen Menschen marschierten. Aber gleichzeitig kam dabei auch ihr innigster Wunsch nach Veränderungen zum Ausdruck. Dort hörte ich direkte Aufrufe an meine Adresse.

Der damalige Ministerpräsident Polens, Reczkowski – er spricht gut deutsch – fragte mich, ob ich verstehe, was die Deutschen da rufen und was die Deutschen von mir in diesem Moment wollen. Ich sagte: "Ja, ich verstehe das schon." Und er sagte: "Das bedeutet das Ende."

"Ja", habe ich gesagt.

Damals habe ich begriffen, welcher Preis jetzt zu zahlen ist für die Mißachtung, für das Ignorieren der Perestroika in der DDR. (…)

Ende Januar 1990 rief ich in meinem Büro einen engen Kreis von Beratern – es waren die führenden Verantwortlichen der Sowjetunion – zum Thema der Deutschen Frage zusammen. Die Entwicklung verlangte dies. Alle von mir eingeladenen Kollegen äußerten sich in dem Sinne, daß das Schicksal der DDR eigentlich entschieden sei. Der Staat löse sich praktisch auf. Wir erörterten die Formel 2 + 4, in deren Rahmen die Siegermächte handeln sollten. An diesem Tag, an diesem Ort habe ich unter allgemeiner Zustimmung den Marschall Achromejew angewiesen, den Abzug der Truppen aus Ostdeutschland in die Wege zu leiten.

Am 10. Februar 1990 fand in Moskau ein sehr wichtiges Treffen mit Bundeskanzler Kohl statt, während dessen ich folgendes erklärt habe, was inzwischen in den Annalen der Wiedervereinigung festgeschrieben steht. Ich zitiere: "Die Deutschen müssen selbst ihre Wahl treffen und die Deutschen müssen über unsere Haltung, über unsere Position Bescheid wissen." Kohl fragte damals noch nach: "Wollen Sie damit sagen, daß die Frage der Einheit Sache der Deutschen selbst ist?"

"Ja", habe ich gesagt, "aber im Kontext der Realitäten."

Die Fragen, die Helmut Kohl und ich besprachen, betrafen nicht nur unsere bilateralen Beziehungen, denn der Prozeß der Wiedervereinigung Deutschlands war unzertrennlich verbunden mit den Veränderungen der gesamten internationalen Lage, vor allen Dingen in Europa. Unvermeidlich war dabei auch der amerikanische Aspekt präsent. Von der Zustimmung der beiden Supermächte hing im entscheidenden Maße ab, ob die Wiedervereinigung friedlich verlaufen würde. Ich möchte ganz besonders hervorheben, daß dies eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Wiedervereinigung Deutschlands war.

"Wir waren für ein neutrales Deutschland"

Nichtsdestotrotz stellte sich mit dem Fortschreiten der Entwicklung immer dringender die Frage nach der Zugehörigkeit des wiedervereinigten Deutschlands zur NATO. Wir waren für ein neutrales Deutschland. Wir gingen dabei davon aus, daß wir ein sehr großes Vertrauen gegenüber Deutschland hatten und immer noch haben. Im westlichen Bündnis, dessen Mitglied Westdeutschland war, stellte man sich die Frage, welche Rolle das vereinte Deutschland in dieser Beziehung zukünftig zu spielen gedenke, und als in Camp David George Bush zu mir sagte: "Haben Sie etwa Angst vor den Deutschen?" – "Wir haben hier keine Angst", sagte ich, "wir haben keine Angst, weder vor den Deutschen, noch vor euch."

Aber weiter habe ich gesagt: "Ich habe den Eindruck, Sie haben vor allen anderen Angst vor einem starken vereinten Deutschland." Und die folgenden Ereignisse zeigten, glaube ich, daß ich recht hatte. Letzten Endes einigte man sich auf die Regelung, die ich mit US-Präsident Bush während unseres Gipfels in Washington im Mai 1990 ausgearbeitet hatte. Und zwar: Deutschland hat das Recht, frei zu entschieden, ob es einem Block beitreten will oder frei bleibt. (…)

Ich bin heutzutage frei, und jetzt kann ich mir leisten, ein bißchen laut zu denken und freie Überlegungen anzustellen. Und ich möchte folgende Überlegung anstellen: Wurde das Volk des vereinten Deutschland gefragt, ob die Deutschen auch in der NATO bleiben wollten? Das wäre, glaube ich, schon im Geiste eines Rechtsstaats gewesen. Wäre das keine Frage für einen Volksentscheid gewesen? Wenn ich das damals gesagt hätte, dann hätte man das als Einmischung in innere Angelegenheiten gedeutet. Aber jetzt führe ich einfach ein Gespräch mit jungen Leuten über wichtige Ereignisse unserer Geschichte. (…)

Als die Politiker darüber nachdachten, nach welcher Formel die Vereinigung verlaufen sollte, gingen alle davon aus, daß es ein langwieriger, ein langer Prozeß sein würde. Wir dachten darüber nach, daß es zuerst wahrscheinlich eine Währungsunion werden würde oder eine Konföderation aus zwei Staaten. Während wir das alles besprachen und darüber grübelten, gingen die Deutschen auf die Grenze zu und stürmten die Berliner Mauer.

Sie haben selbst entschieden, welche Art der Wiedervereingung sie bevorzugen. Wie sollen Politiker unter solchen Bedingungen reagieren? Ich glaube, nur so, wie es in jenen Tagen war. Und wir handelten auch in diesem Sinne. Als ich am 9. November den Anruf aus Berlin bekam und erfuhr, daß die Deutschen von beiden Seiten die Mauer stürmten und daß die Führung der DDR die Mauer öffnen ließ und die Vereinigung sich eigentlich vollzogen hatte, habe ich gesagt: "Sie haben recht gehabt." Das war der Ausgangspunkt. (…)

Nach den Absprachen, die ich mit dem US-Präsidenten getroffen hatte, war die Frage, ob sich Deutschland vereinigt oder nicht, eigentlich vom Tisch. Sie galt ab jetzt als ein Problem der geschichtlichen Entwicklung. Was übrig blieb, war die juristische und politische Gestaltung dieser Angelegenheit. Diese Arbeit wurde im Laufe von drei Monaten in Moskau, im Kaukasus und in Bonn geleistet. Dazu gehörte natürlich die Regelung der außenpolitischen Aspekte der Wiedervereinigung über die 2 + 4 Formel.

Im Juli brachte der Bundeskanzler den Entwurf des großen Vertrages mit nach Moskau, des Vertrages zwischen der Sowjetunion und dem künftig vereinigten Deutschland. Dieser Vertrag öffnete ein neues Kapitel in unseren gegenseitigen Beziehungen. Diese Tatsache erschien uns weder verfrüht noch unerfreulich. In der Sowjetunion wurde diese Entwicklung sehr positiv aufgenommen. Und das war auch von ausschlaggebender Bedeutung in den Tagen, als diese Entscheidungen fielen.

Jetzt möchte ich auf die Bitte der Veranstalter eingehen und mich zu den Fragen der Restitutionen äußern. (…) Sämtliche Verhandlungen, sämtliche Vereinbarungen, Beschlüsse, offizielle Erklärungen, die mit der Wiedervereinigung Deutschlands verbunden sind, sind veröffentlicht worden. Und nur sie allein sind politisch und juristisch wirksam. Es gab und es gibt keine geheimen Abkommen und Vereinbarungen.

Es geht nicht nur darum, daß es keine schriftlichen offiziellen Protokolle gibt, keine geheimen schriftlichen Protokolle, es gibt nicht einmal geheime Gentle-men’s Agreements in diesem Sinne. Von dem Moment an, als ich dem Bundeskanzler gegenüber erklärt hatte, daß die eigentlichen inneren Angelegenheiten im Rahmen des Wiedervereinigungsprozesses durch die Deutschen selbst zu entscheiden sind, hielt ich mich strikt daran. Und die Frage nach der Restitution des enteigneten Besitzes wurde auf der höchsten Führungsebene niemals angesprochen! Für mich klingt das einfach absurd, wenn man mir unterstellt, ich hätte diese Forderung nach dem Verbot der Restitution als Vorbedingung für meine Zustimmung zur Wiedervereinigung gefordert. (…)

Am 15. Juni 1990 veröffentlichten die Regierungen der damals noch existierenden beiden deutschen Staaten eine gemeinsame Erklärung zur Regelung der noch offenen Vermögensfragen. Sie einigten sich darauf, daß die Regelungen so, wie sie nach dem Krieg entschieden wurden und wie sie nach dem Kriege festgeschrieben wurden unumstößlich sind und nicht mehr rückgängig zu machen sind. Gleichzeitig kamen sie überein, daß es dem künftigen gesamtdeutschen Parlament vorbehalten bleiben soll, über etwaige Entschädigungen für die Enteignungen zu entscheiden. Das heißt, die Frage wurde von den Deutschen selbst entschieden, zwischen Deutschen und Deutschen, ohne unsere Intervention. Und sie haben Minister Schewardnadse offiziell informiert. Minister Schewardnadse nahm die gemeinsame Erklärung der beiden deutschen Staaten ohne jeden Kommentar entgegen. So war unsere offizielle Position.

Die Archive sind offen, jeder hat Zugang dazu

Man erwähnt den Botschafter Kwizinskij, der ebenfalls Verhandlungen auf seiner Ebene führte, als hätte er den Verzicht auf Restitution als Vorbedingung zu unserer Zustimmung zur Wiedervereinigung gefordert und sich dabei auf das Politbüro berufen. Ich möchte nicht ausschließen, daß Kwizinskij das wirklich getan hat. Ich weiß, daß auf verschiedenen Verhandlungsebenen mehrmals das Thema angesprochen wurde, daß die Deutschen bei der Wiedervereinigung nach vorn schauen sollen und der Wiedervereinigungsakt denjenigen keine Chance geben dürfe, die neuen Streit wollen. Damals haben wir auch das auf verschiedenen Verhandlungsebenen besprochen. Im Politbüro, muß ich sagen, wurden diese Probleme niemals erörtert, und es gab keinen Politbüro-Beschluß zu dieser Frage. Denn diese Frage konnte sich dem Politbüro überhaupt nicht stellen.

Die Archive sind offen, jeder hat Zugang dazu. Selbstverständlich, wenn Sie mich fragen würden, wie ich persönlich zu diesem ganzen Problem stehe, dann würde ich als ein Freund Deutschlands sagen, daß man diese sehr heikle Frage nicht aufwühlen sollte. (…)


 
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