© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/98 20. März 1998

 
 
Korsika: Deutliche Verluste der Nationalisten bei den französischen Regionalwahlen
Die langen Schatten der "Omerta"
von Paul-Michael Gosdeck

Ein spezielles Augenmerk der französischen Öffentlichkeit richtete sich nach den Regionalwahlen auf Korsika, zumal sich nach der Ermordung des Präfekten Claude Erignac die französische Regierung veranlaßt sah, die Zukunft der Mittelmeerinsel stärker in die eigenen Hände zu nehmen, sowohl in rechtsstaatlich-politischer wie auch in wirtschaftlicher Hinsicht.

Das Pariser Kabinett legte erst dieser Tage Zielvorgaben der künftigen Korsika-Politik fest. Nach Aussage von Innenminister Chevènement ist die "Wiederherstellung des Rechtsstaates in Korsika" nicht sofort erreichbar. Es handelt sich seinen Worten zufolge um eine äußerst schwierige Aufgabe, zumal alles wiederaufgebaut werden müsse, was man "zum Funktionieren eines modernen Staates" benötige. Bekämpft werden sollen nicht nur die Gewaltverbrechen, sondern auch die grassierende Wirtschaftskriminalität.

Unter dem Diktat der leeren Staatskassen muß sich die Pariser Verwaltung nun mit den Folgekosten der Kriminalitätsentwicklung auf der Insel befassen. Allein die 571 Anschläge auf öffentliche Einrichtungen im Jahre 1995 schlugen auf der Soll-Seite des Staatshaushalts mit 600 Millionen Francs (etwa 180 Millionen Mark) zu Buche. Neben diesen direkten Folgekosten leidet der französische Fiskus unter korsischen Subventionsbetrügereien und Steuerhinterziehungen. Offiziellen Schätzungen zufolge beläuft sich der Steuerbetrug auf 700 Millionen Francs jährlich (210 Millionen Mark). Für zu Unrecht bezogene Zuschüsse müssen auch die Steuerzahler aus anderen EU-Ländern ihren Obulus entrichten.

 

Auch die Korsen haben die EU als Melkkuh entdeckt

Die Staatengemeinschaft hat sich auch für die Korsen zu einer liebgewordenen Melkkuh entwickelt – im wahrsten Sinne des Wortes, denn die Milchkühe sind es, die den größten Geldsegen aus Brüssel einbringen: Immer wieder gelingt es korsischen Landwirten, unterstützt von korrupten Bürgermeistern und Veterinären, die nicht durchgeführte Impfungen attestieren, aus dem EU-Füllhorn bedacht zu werden. Vor einigen Jahren war es sogar den Brüsseler Bürokraten zu arg geworden, so daß sie kurzerhand für einige Zeit sämtliche Zahlungen aussetzten.

Die "Omerta", das Gesetz des Schweigens, das jeden echten Korsen davon abhält, einen Landsmann anzuzeigen, begünstigt das Entstehen eines schier undurchdringlichen Geflechts illegaler Machenschaften. Außenstehende Beobachter stellen in ihrer Hilflosigkeit gegenüber diesem Phänomen nicht selten den korsischen Nationalismus als die zentrale Ursache für die steigende Kriminalität dar. Innenminister Chevènement sieht die Sache jedoch klarer: "Die nationalistische, vielmehr die pseudo-nationalistische Ideologie wurde sehr schnell zur Hülle von Verbrechen, die mafiösen Interessen dienen. Man läßt ein Verbrechen zur politischen Tat werden." Die Untersuchungen der Polizeibehörden im Mordfall Erignac verfolgen daher auch nicht nur Spuren, die in Richtung einschlägiger nationalistischer Kreise weisen, sondern auch solche, die ins rein kriminelle Milieu führen.

Die mittlerweile unüberschaubar gewordene Zahl bewaffneter Untergrundgruppen macht eine differenzierende Gliederung nahezu unmöglich. Schon die Vielzahl nationalistischer Parteien gibt eine Ahnung davon, vor welche Probleme hier Beobachter der Entwicklungen auf Korsika gestellt sind. Bei den Regionalwahlen am 15. März spiegelten sechs korsisch-nationalistische Listen die Hauptströmungen wider – zwischen radikalsten Unabhängigkeitskämpfern und moderaten Autonomisten.

Hatten die Nationalisten 1992 noch 25% Wählerzustimmung und 13 Sitze in der Territorialversammlung, so fiel diesmal das Ergebnis für alle Listen zusammengenommen mit 17% deutlich schlechter aus. Beworben für den Einzug in die "Assemblée territoriale", die aufgrund des korsischen Sonderstatus im Vergleich mit den übrigen Regionen im französischen Staat über größere Rechte verfügt, hatten sich 15 Listen. In Korsika wird abweichend vom übrigen Staatsgebiet nach einem Mehrheitswahlrecht in zwei Durchgängen gewählt. Nur wer in der ersten Runde mehr als 5% der Wählerstimmen erreicht, darf sich eine Woche später bei der Verteilung der Mandate noch einmal dem Bürger präsentieren.

Drei der Wahlvorschläge waren von markanten Persönlichkeiten der nationalistischen Szene in die Auseinandersetzung geführt worden. Unter dem Etikett "Corsica Nazione" trat A Cuncolta Naziunalista an, der legale Arm der bewaffneten Gruppierung FLNC-Historischer Kanal. Mit ihrem Spitzenkandidaten Jean-Guy Talamoni schaffte sie es als einzige nationalistische Partei, die 5-Prozent-Hürde zu überspringen. Edmond Simeoni führte eine von der UPC (Union des korsischen Volkes) initiierte offene Liste an. Mit 4,99% scheiterte diese denkbar knapp. Letztlich fehlten ganze 33 Stimmen zum Einzug in die Stichwahl. Edmonds bekannterer Bruder Max hatte bei den Regionalwahlen 1992 für eine gemeinsame Vorschlagsliste mit allen Formationen außer der MPA immerhin 13,7% erringen können.

 

Nur eine nationalistische Partei über 5 Prozent

Danach war das Bündnis jedoch zerfallen, als die UPC als einzige korsisch-nationalistische Partei, die keine Verbindungen zu bewaffneten Untergrundgruppen unterhält, wegen der Gewaltfrage ausscherte.

Das Mouvement pour l’autodéter-mination (Bewegung für die Selbstbestimmung), kurz: MPA, trat auch diesmal – wie schon vor sechs Jahren – mit einer eigenen Liste an. Das Aushängeschild des FLNC-Gewöhnlicher Kanal hatte in den letzten drei Jahren durch ganz unterschiedliche Ereignisse Aufmerksamkeit erregt. Im April 1996 nahm die Polizei ein bekanntes MPA-Mitglied wegen des Mordes am früheren Vorsitzenden des Fußballklubs von Bastia, Vincent Dolcerocca, fest. Die Tötung Dolceroccas, eines La Cuncolta-Mannes, war einer der blutigen Höhepunkte in einer langen Reihe brutaler Abrechnungen. Die MPA, die 1992 immerhin fast 7,5% der Stimmen auf sich vereinigen konnte, wußte sich jedoch auch politisch in Szene zu setzen: Unter Gilbert Cassanova gelang es ihr Ende 1994, die Unzufriedenheit der kleinen Kaufleute und Gewerbetreibenden auszunutzen. Bei den Wahlen zur korsischen Industrie und Handelskammer erreichten die MPA-Aktivisten stolze 57,4%. Doch auf diesen Coup folgte nun am vergangenen Sonntag mit mageren drei Prozent der Abrutsch in die parteipolitische Bedeutungslosigkeit.

Der von den korsischen Nationalisten heftig befehdete und im letzten Regionalrat nicht vertretene Front National riskierte es diesmal, einen nicht-korsischen Spitzenkandidaten aufzustellen: Roger Holeindre, der parteiintern nach der unbesiegbaren Zeichentrickfigur als "Popeye" bezeichnet wird, ist ehemaliger Widerstandskämpfer und Chef des straff organisierten FN-Ordnungsdienstes. Doch auch Holeindre, diese personifizierte Kampfansage an alle korsischen Nationalisten, scheiterte knapp an der 5-Prozent-Sperrklausel.

Die vier konkurrierenden bürgerlichen Listen erreichten auf der widerspenstigen Mittelmeerinsel zusammen 43% und können sich damit berechtigte Hoffnungen machen, die Linke mit ihren insgesamt 25% auch in der zweiten Runde zu schlagen und erneut die politische Führung auf Korsika zu übernehmen. Doch damit dürfte sich an der bisherigen Richtung der Regionalpolitik und den Problemen des Landes so gut wie nichts ändern.


 
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