© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/98 20. März 1998

 
 
Drama des Scheiterns
von Herbert Ammon

 Im Jahre 1998 steht für die Deutschen bürgerstolzes Gedenken an die Märzrevolution 1848 im Geschichtskalender – ein Grund zum Feiern schon deshalb, weil sonst immer nur getrauert werden muß. Vor allem in Baden, im Südwesten scheint es das Volk unter Anleitung geschichtsbewußter Pädagogen mit dem Feiern ernstzunehmen: schwarz-rot-goldene Fahnen, blaue Bluse, rotes Halstuch und dazu der Calabreser Schlapphut mit der deutschen Kokarde! Donnerwetter! Ist etwa dort unten, im Kernland des vormärzlichen Radikalismus, der Geist des schwarz gewandeten "roten Hecker" und des nicht minder jakobinischen Vegetariers Gustav Struve, die Idee der nationalen, demokratischen und sozialen Revolution noch lebendig? Sammeln sich dort die Freischaren, unter ihnen der demokratische Kommunist Friedrich Engels, zum letzten Gefecht für die Reichsverfassung? Verstecken sich unter den historischen Kostümen wackere Streiter für die reale Einlösung des vom Bonner 50er-Ausschuß eiligst entschärften Artikels 146 GG? Inszeniert man dort etwa – in bester Tradition des deutschen Deserteurs – den Übergang des (badischen) Militärs zu den Aufständischen? Nein, so weit sollte man das Historienspektakel denn doch nicht treiben!

Immerhin dürfen wir mit Vergnügen konstatieren, daß auch die im Wahljahr 1998 Regierenden, deren Staatsgewalt vom Volk ausgeht, in diesen Tagen an revolutionäre Tatsachen erinnern: daran, daß sich die gewöhnlich ob ihres Obrigkeitsglaubens, ihres Untertanengeistes, ihres Mangels an Zivilcourage getadelten Deutschen von Zeit zu Zeit anders besinnen und eine veritable Revolution unternehmen können. Die Ironie liegt freilich darin, daß auch die demokratisch Regierenden Revolutionen nur deshalb lieben, weil sie weit zurückliegen. Oder wünschte sich irgendeiner in Bonn und Frankfurt, in Wien oder Berlin ernsthaft eine Wiederholung des revolutionären Trubels von 1848/49 oder auch nur der fantastisch-friedlichen Revolution von 1989?

Wenden wir uns also vom bundesrepublikanischen Festesjubel ab und den historischen Realitäten zu: Was geschah im Jahr 1848, warum scheiterte jene deutsche demokratische Revolution, deren Scheitern zu beklagen zum demokratischen Usus gehört? Dazu die bekannten Formeln: Der demokratische Traum scheiterte an der deutschen Zersplitterung, an der deutschen Rückständigkeit, an der ungebrochenen Fürstenmacht, am schwachen deutschen Bürgertum... Schon richtig! Die Professoren in der Paulskirche waren alles andere als entschlossene Jakobiner, auch die radikalen Patrioten, der alte Arndt, der ergraute Rauschebart Jahn hatten sich zu maßvollen Liberalen gewandelt. Der alte Burschenschafter Heinrich von Gagern versicherte sich bei seinem "kühnen Griff" nach einer starken Zentralgewalt immer wieder der eher symbolischen als politisch fundierten Unterstützung des Erzherzogs Johann, des liebenswerten "Reichsverwesers". Ein Bündnis mit den wirklichen Revolutionären, den sozialradikalen Republikanern im aufrührerischen Südwesten, mit dem "Sozialdemokraten" Hecker kam selbst für einen Republikaner wie Robert Blum im April nicht in Frage, und der stolze Hecker wollte den Ruhm der Revolution anfangs nicht mit der "deutschen Legion" eines Georg Herwegh teilen... Nach dem mißratenen Gefecht von Kandern war es für die Verbrüderung aller "roten" Revolutionäre bereits zu spät. Warum Hecker eigentlich beim zweiten Aufstand im September zögerte, abseits blieb, es vorzog, schon so früh in die nordamerikanischen Freistaaten zu emigrieren, bleibt eine Frage, die jeden echten ’48er schmerzen muß.

Doch zurück zur fehlenden Entschlossenheit der vom deutschen – notabene großdeutschen – Volk in die Frankfurter Paulskirche gewählten bürgerlichen Revolutionäre: Wer – außer den geschichtswissenschaftlichen Erben der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution – will diesen verübeln, da ihnen angesichts der blutigen Junischlacht in Paris die rote Gefahr vor Augen stand? Die blutige Klassenschlacht wurde von bürgerlichen Republikanern inszeniert, durchaus nicht von der legitimistischen oder orleanistischen Reaktion. Freilich, dem deutschen Bürgertum ausgerechnet darum nachträglich seine Furchtsamkeit vorzuhalten, erweist sich als fragwürdiges Geschichtsrezept: Wie denn anders, wie besser? Ohne Bündnis mit den ungeliebten Radikalen, ohne Volksrevolution und Volkskrieg wäre die edle Sache von 1848 eben nicht zu gewinnen gewesen! Aber, aber: Da sei die Vernunft davor, nachdem wir Deutschen unsere Geschichtslektion so mühselig, bitter und verdient haben lernen müssen! Derlei kriegerische, irgendwie auch verdächtig "völkisch" klingende Vokabeln sind dank der Lernfähigkeit der bundesrepublikanischen Alt-’68er, die unserer Demokratie laut Rita Süßmuth erst den rechten demokratischen Geist eingepflanzt haben, nun wirklich aus der Mode gekommen...

Wir kommen zu den wunden Punkten des großen deutschen, großdeutschen Revolutionsversuchs: das Scheitern des nationalen Traumes an den Realitäten, an der deutschen politischen Geographie, an der fehlenden Liebe der europäischen Volker füreinander im Jahr des "Völkerfrühlings": Der Posener Aufstand, angeführt vom Patrioten Mieroslawski, entzweite Deutsche und Polen, der Slawenkongreß in Prag säte Unfrieden zwischen Deutschen und Tschechen und mündete in den von Windischgrätz niedergeschlagenen Pfingstaufstand. Bei Custozza schlug Radetzky die vereinigten Italiener, an der Donau zog der kroatische Banus Jalacic entschlossen gegen die stolzen Magyaren um Kossuth zu Felde, für die alte Ordnung, für das übernationale Kaisertum, wenn denn die ungarische Nation die kroatische nicht gleichachten wollte.

Die Mißgeschicke der deutsche Revolution begannen mit der deutschen demokratisch-nationalen Erhebung in Schleswig gegen den Annexionsdrang des dänischen demokratischen Nationalismus. Die am 22. Mai eröffnete Paulskirche konnte den vom Deutschen Bund entsandten preußischen Truppen wenig mehr als den demokratischen Segen hinterherschicken. Denn die recht zahlreichen republikanischen Freiwilligen konnten ohne den altpreußischen General Wrangel allein nicht allzuviel ausrichten. Verdorrte der deutsche Traum von Einheit und Freiheit, von Demokratie und Nation also nicht schon im September 1848? Bei der zweiten Abstimmung über den Waffenstillstand von Malmö am 18. September unterwarf sich die Mehrheit der Volksvertreter in der Paulskirche dem Zwang der alten europäischen Machtrealitäten: Im liberalen England wußte man wohl zu unterscheiden zwischen Sympathien für die freiheitsdurstigen Deutschen und den eigenen geopolitischen Interessen. Am Bosporus des Nordens, am Großen Belt, trafen sich diese mit den vom deutschen Freiheitsrausch tangierten Machtinteressen der Autokratie in St. Petersburg.

So erlebte im Septemberaufstand die herrliche deutsche Revolution von 1848 ihr erstes Debakel: die "roten" Nationalrevolutionäre probten den Aufstand gegen die schwächlichen schwarz-rot-goldenen Patrioten. Das gute, aber national erboste Volk massakrierte die Reaktionäre Lichnowsky und Auerswald, da rief die Nationalversammlung Preußen und Österreicher aus der Bundesfestung Mainz zu Hilfe. Ein frühes Finale der Revoluton, keine freie Republik Deutschland, auch kein revolutionärer Volkskrieg der deutschen, europäischen Linken gegen das finstere Völkergefängnis des russischen Zaren.

Alles, was danach kam, liest sich wie ein langer Schlußakt im Drama des Scheiterns. Gewiß: einen spektakulären, so erhebenden wie deprimierenden Höhepunkt erlebt die Revolution noch in der Oktoberschlacht in Wien. Es folgt die preußische Antiklimax mit dem kampflosen Einzug von Wrangels Truppen in Berlin und dem kläglichen Abgang der "linken" preußischen Nationalversammlung. Im April 1849, nach lähmender Bedenkzeit, desavouiert der dem liberalen Zeitgeist abholde Preußenkönig das kleindeutsche Werk der Paulskirche. Endlich die pathetischen Schlußszenen unserer deutschen demokratischen Revolution: die Aufstände für die Reichsverfassung von Mai bis Juli 1849, die Kapitulation der revolutionären Demokraten in den Kasematten von Rastatt, Todesurteile, Hinrichtungen, Festungshaft, Emigration.

Wir bundesrepublikanischen Verfassungspatrioten sind also historisch richtig eingestimmt: Der Exodus der deutschen Demokraten in die USA darf beklagt werden, er gehört zur demokratischen Litanei. Die Deutschen – ein Volk, ein Land ohne erfolgreiche Revolution – auf ihrem Sonderweg über den Bismarckschen Obrigkeitsstaat in den Verbrecherstaat Hitlers.

Indes: In welchem Geschichtsbuch, in welcher Gedenkrede will man schon an jene harten Fakten von 1848 erinnern? Wer denkt am Ende der Ära Kohl, im Jahre des deutschen Euro-Notopfers 1998/99, an die realen Verhältnisse anno 1848/49? Nein, hier geht es nicht um borussische Machtrhetorik im Stile Treitschkes, es geht uns um 1848/49, nicht 1870/71! Und doch: Erinnern wir uns auch anno 1998 an die europäischen Realitäten! Zu den mißlichen Realitäten gehört die Außenpolitik, zur deutschen Realität gehört die geopolitische Mittellage. An der Außenpolitik zerschellte der schöne Traum des März 1848, an den Realitäten von Versailles der vielfach gespaltene Traum des November 1918.

Was gibt es dann also noch zu feiern? Welche Helden der Revoluton sollen wir ehren? Die Märzgefallenen oder die Oktobergefallenen, den in die USA entfleuchten schwarzen Hecker oder den in der Brigittenau füsilierten Robert Blum, die Studenten der "Aula", die schon am 13. März auf die Barrikaden gingen, oder die Revolutionäre des 18. März, den Apotheker Fontane oder den Schlosserlehrling Ernst Zinna, gar die Dresdner Revolutionäre Richard Wagner und Bakunin oder den revolutionären Demokraten Friedrich Engels? Gott bewahre! Damit beim Lernen deutscher Geschichtslektionen nichts schief geht, erinnern wir uns politisch korrekt an Mieroslawski, Carl Schurz und.


 
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