© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   15/98 03. April 1998

 
 
Bericht der Gauck-Behörde: Die Staatsicherheit der DDR hatte 30.000 Helfer in der Bundesrepublik
Mielkes langer Arm im Westen
Gerhard Quast / Peter Krause

Im Herbst 1958 startete das Ministerium für Staatssicherheit der
DDR (MfS) die Aktion „Lemmerschwanz". Ziel war die Diffamierung des Gesamtdeutschen Ministeriums und seines Ministers Ernst Lemmer (CDU). Wenige Monate später veranlaßte die Hauptverwaltung Aufklärung beim MfS die Verhaftung eines in Leipzig wohnenden Bekannten Willy Brandts aus der Zeit des gemeinsamen Exils in Norwegen: Georg Angerer sollte Erklärungen über angeblich frühere Gestapo-Verbindungen Brandts abgeben. Einen Tag vor seiner Wiederwahl zum Bundespräsidenten wurde Heinrich Lübke als Baumeister von Konzentrationslagern „entlarvt"; das gefälschte Material war der westdeutschen Presse vom MfS zugespielt worden. Nur einige Beispiele, die belegen, daß die Arbeit der Staatssicherheit im „Operationsgebiet", wie die Bundesrepublik im Stasi-Deutsch lapidar hieß, weit über „klassische" Spionage hinausging.

Zudem: Fälle wie die Spionage des Ehepaars Guillaumes, Gerd Löfflers, CDU-Abgeordneter in der Hamburger Bürgerschaft, oder Heinz Helmut Werners, Chiffrier-Offizier der Bundeswehr im NATO-Hauptquartier, waren keine Einzelaffären, sondern stellen bloß die sichtbare Spitze des Aktenberges dar. Von einem vollständigen Bild der „Erfolge" des MfS in der Bundesrepublik kann nach wie vor keine Rede sein.

Vor einem Jahr hat der Vorsitzende der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur", Rainer Eppelmann (CDU), den Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR (BStU), Joachim Gauck, aufgefordert, sich verstärkt der West-Tätigkeit des MfS zu widmen. Das Ergebnis liegt nun vor: eine gut 300 Seiten starke Studie von Hubertus Knabe.

Die zentrale Erkenntniss des Berichtes lautet: Die Stasi war ein gesamtdeutsches Phänomen. Zwei der sechs Millionen in der Zentralkartei des MfS erfaßten Menschen waren Bundesbürger. Die wichtigste Zahl aber ist: Bei ihrer West-Arbeit hat die Stasi auf bis zu 30.000 Helfer im Westen zurückgreifen können. Die Dunkelziffer könnte beträchtlich höher sein. Vor diesem Hintergrund wandte sich Gauck bei der Präsentation der Studie in Berlin gegen ein „Moralgefälle West-Ost". Auch im Westen gebe es „eine Geschichte des Verrats und der Bespitzelung".

Der Knabe-Bericht nennt die West-Arbeit des MfS „außerordentlich erfolgreich". Der Stasi ging es zunächst um Spionage in Politik, Militär, Wirtschaft, also um Informationsbeschaffung. Darin waren die West-Spitzel, die „wohldurchdacht" und dicht plaziert waren, so erfolgreich, daß oft in Ost-Berlin ein Informationsvorsprung vor westdeutschen Entscheidungsgremien bestand. Die Auswertung hinkte der Materialsammlung hinterher. Das Mielke-Ministerium konnte sein Wissen so oft nicht vollständig nutzen.

Doch dem MfS ging es von Anfang an auch um „Prävention": die politischen Entscheidungsprozesse der Bundesrepublik sollten beeinflußt werden. Und auch bei diesen gezielten Angriffen auf den westdeutschen Staat konnte die SED mit ihrem geheimen Sicherheitsorgan sehr zufrieden sein. Entführung und Ermordung in den 50er Jahren wich subtileren Methoden: Diffamierung, Diskreditierung, Desinformation.

Abwehr und Aufklärung wurden dabei immer weniger unterschieden. Gegner der DDR waren ein wichtiges „Objekt" der Zersetzung. Fluchthilfegruppen, das „Brüsewitz-Zentrum", die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte, die „Arbeitsgemeinschaft 13. August" oder Vereine wie „Hilferufen von drüben" sollten eingeschüchtert, die radikalste Kritik an der DDR im Westen sollte diskreditiert werden.

Erfolgreicher noch war das MfS bei der Unterwanderung der Bonner Politik, und es hat Einfluß auf den Zeitgeist gewonnen. Besonders Mitglieder der SPD, des DGB, des linken Flügels der FDP sowie später der Friedensbewegung und der Grünen, auch der Medien wurden zielstrebig instrumentalisiert. Ein Beispiel: In der Führung der Berliner Studentenbewegung 1968/69 arbeiteten für die Stasi mehr als zwei Dutzend Informelle Mitarbeiter.

Das MfS hat durch seinen Einfluß auf die Meinungsbildung zur Bereitschaft der westdeutschen Gesellschaft beigetragen, „sich mit der Diktatur im Osten abzufinden"; der „Wandel durch Annäherung", die sozialliberale Ostpolitik war, so schätzt Knabe ein, in umgekehrter Richtung wirksam: „Die Grenze zwischen Dikatur und Demokratie verschwamm, die moralischen Barrieren gegenüber der kommunistischen Parteiherrschaft wurden tiefer gehängt oder eingeebnet".

Interessant ist die Motivation der Stasi-Informanten im Westen. Eine „erstaunlich hohe Zahl" sei aus ideologischen Gründen zur Zusammenarbeit mit dem Mielke-Ministerium bereit gewesen. Diese handelten also freiwillig. Sie hätten die DDR als „Alternative" zur Bundesrepublik gesehen. Neben dieser Gruppe gab es Westdeutsche, die der Stasi in die Falle gegangen und erpeßbar geworden waren. Weitere – wie der CDU-Abgeordnete Julius Streicher beim gescheiterten Mißtrauensvotum 1972 gegen Brandt – arbeiteten schlicht für Geld.

Der Bericht und die Reaktionen auf ihn haben eines gezeigt: Es gibt im Westen erhebliche Schwierigkeiten, mit dem Problem Stasi umzugehen, wenn es über die Grenzen der Ex-DDR hinausgeht. Es scheint kein wirkliches Interesse daran zu bestehen, die ganze West-Arbeit des MfS mit Rang und Namen aufzudecken. Rainer M. Schubert, ehemaliger Fluchthelfer, 1975 in Ost-Berlin verhaftet und erst 1983 aus dem DDR-Zuchthaus entlassen, sieht politische Bremser am Werk. In einem Gespräch mit der jungen freiheit sagte er, viele Leute in der Bundesrepublik werden die Aufklärung zu verhindern suchen. Und er stellt klar: „Es geht nicht IMs, sondern um Landesverräter."

Schubert glaubt, daß die Dunkelziffer weit über 30.000 liegt: „Das geht bis in die Spitzen der Politik." Aber er glaubt nicht, daß da noch viel zu beweisen sei. Die Akten wären unter Modrow auch deshalb vernichtet worden, um West-Informanten zu schützen. Schubert sieht Joachim Gauck im Zugzwang, zumal Vorwürfe – zuletzt von Jürgen Fuchs – laut geworden sind, bereits bei der Gauck-Behörde würden Erkenntnisse unterdrückt. „Und die Schreibtischtäter im Westen, die Schönfärber, sind an einem Vergessen interessiert. Es gibt zahlreiche Leute in der Politik, die ein gravierendes Interesse haben, daß das Thema Stasi im Westen unter den Tisch gekehrt wird."

Daß ein breiter westdeutscher Konsens darin besteht, die eigenen Leichen im Keller totzuschweigen, findet auch Eberhard Göhl, 1959 bis 1965 in Bautzen II inhaftiert, jetzt Vorsitzender des „Opfer-Förderungs- und Dokumentationszentrums Bautzen II": „Die sind alle verstrickt." Die Politik der SPD gegenüber der DDR wäre von der CDU „ohne Abstriche" fortgeführt worden, und das „ging nur in Zusammenarbeit mit der SED".

Gegenüber der jungen freiheit betonte er aber, daß Belege nach wie vor fehlten. Im Knabe-Bericht vermißt Göhl Namen. In diesem Zusammenhang gibt er der Gauck-Behörde erhebliche Mitschuld; sie führe die Arbeit der Stasi quasi weiter. Wolfgang Becker, 1947 bis 1956 inhaftiert, zuletzt in Bautzen, nun Vorsitzender des Verbandes der politischen Häftlinge des Stalinismus, hält die Vorwürfe gegen die Gauck-Behörde dagegen für überzogen. Die Behörde stelle nur die Akten bereit, die Ermittlungen führten die Kriminalämter oder der BND. Becker wies nachdrücklich auf die moralische Problematik hin: Die hohe Zahl freiwilliger Spitzel sei eine Schande; der Westen habe alles andere als Grund zur Überheblichkeit. Dieter Elias vom „Bautzen-Komitee" sieht zudem ein schwindendes Interesse der Öffentlichkeit an der Stasi-Geschichte. Diejenigen, die im Westen keine „schlafenden Hunde" wecken wollten, hätte keine schlechten Chance. „Die – und das geht quer durch alle Parteien – handeln nach dem Motto, die Sache auf kleinem Feuer so lange zu kochen, bis sie verkocht ist."

Jörn Ziegler, von 1981 bis 1989 Vorstandssprecher der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM), sagt: „Im Westen findet ein Verdrängungs-Mechanismus statt. Das ist natürlich auch bequemer sowohl für das eigene Gewissen als auch für die politischen Folgewirkungen, die sich sonst ergeben könnten." Weiter erklärt Ziegler: „Besonders an bestimmten Schaltstellen unserer Medienlandschaft sitzen Menschen, die eine offene Hand hatten für die Interessen totalitärer Systeme."

Ein zentraler Punkt der Kritik, auch von der Gauck-Behörde angesprochen, ist, daß sich westdeutsche Parteien und Institutionen gegen eine weitere Aufarbeitung ihrer möglichen Stasi-Vergangenheit sperren. Gerhard Stümpfig, Leiter des Forschungsinstituts der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, sieht das anders. Er hält den Einfluß der Stasi im Westen für „eher gering". Er weiß auch nicht, „was es aufzuarbeiten gibt", denn es gäbe, so erklärte er gegenüber der jungen freiheit, keine Anhaltspunkte für Stasi-Spitzel in der Stiftung. Klaus-Peter Schneider, Leiter der Presseabteilung der Ebert-Stiftung, äußerte sich ähnlich: seine Stiftung halte „ständigen Kontakt zur Gauck-Behörde" und würde, „sobald Veranlassung dazu besteht, die nötigen Schritte einleiten".


 
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