© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   15/98 03. April 1998

 
 
Pankraz, H.-M. Sass und die Toten Kinder der Luxusmedizin

Kürzlich hörte Pankraz einer öffentlichen Diskussion über aktuelle Fragen der sogenannten Bioethik zu, in der eine evangelische Pastorin aus der Schweiz in eiferndem Ton ausführte, die etwa zweihunderttausend Dialyse-Patienten, die es im „hochentwickelten" Westeuropa gebe, seien „Wohlstandsschmarotzer"; mit dem Geld, das ihre teure Behandlung erfordere, könnten „Millionen von Kindern aus der Dritten Welt" vom Hungertode errettet werden, und dasselbe gelte für Transplantationen, Herzklappen- und Bypass-Operationen. Diese ganze superaufwendige Luxusmedizin des Westens sei ein ethischer Skandal, ein mörderischer Ausbeutungsbetrieb, „errichtet auf den Gebeinen von Millionen verhungerter Kinder aus der Dritten Welt".

 

Die Pastorin, das war ganz offensichtlich, kam sich bei ihren Ausführungen selber hochmoralisch vor. Man kann das aber auch ganz anders sehen. Vor dem inneren Auge von Pankraz erschien die Dame momentweise als eine Art weiblicher Scharfrichter, als ein gnadenloses Selektierungsorgan, das an den Betten der „westlichen Wohlstandspatienten" Visite macht, sich die Unterlagen über die Therapiekosten und die Lebenserwartungen vorlegen läßt und entscheidet: „Bei dem abschalten! Für den auf keinen Fall eine Niere reservieren! Bei dem keine Blutwäsche mehr zulassen!" Ordentlich Angst werden konnte einem vor soviel Menschlichkeit.

Ganz schlimm wurde es, als Frau Pastor dann auch noch die Globalisierung ins Spiel brachte. Die globalisierten Kommunikations- und Lieferungsströme, argumentierte sie, dürften nicht nur der Finanzspekulation und dem Export von Arbeitsplätzen zugute kommen, sondern auch „der Rettung von Menschenleben". Wenn es logistisch möglich sei, billige Lebens- und Arzneimittel in kürzester Frist an verhungernde Kinder heranzubringen, dann habe man „die verdammte Pflicht und Schuldigkeit", das auch zu tun und die Kosten dafür zu übernehmen. Gesundheitsfürsorge dürfe nicht mehr nationalstaatlich, sondern müsse global betrieben werden. Das erfordere einfach „das neue Weltethos".

Hoffentlich lassen sich die Bioethiker nicht von solchen Tönen einschüchtern. Sie würden sonst nämlich einen Moralgrundsatz aushöhlen, der bisher völlig unumstritten war und der zu den wenigen wirklich edlen Errungenschaften der Zivilisation gehört; Pankraz meint den uralten ärztlichen Grundsatz „salus aegroti suprema lex": „die Gesundheit meines Patienten ist oberstes Gesetz".

Wo kämen wir denn hin, wenn ein Arzt, dem sich ein Patient mit seinem Leiden anvertraut, zunächst einmal, bevor er sich zur Hilfe entschließt, nach dem Wohl der Gesamtmenschheit Ausschau hielte und nachprüfte, in welchem Verhältnis die für diesen seinen Patienten aufzuwendenden Ressourcen an medizinisch-menschlicher Zuwendung und finanzieller Anstrengung zu den für die gesamte „Weltgesundheit" aufzuwendenden Ressourcen stehen? So etwas wäre doch völlig absurd.

Die Pastorin rechnete vor: „Der gut versicherte westliche Dialyse-Patient ist reich, das verhungernde Kind in der Dritten Welt ist arm, bettelarm. Die westlichen Dialyse-Patienten sind wenige, die verhungernden Kinder sind viele, allzu viele." Mit solchen „Kriterien" ausgerüstet, glaubte sie, ein Todesurteil über die westlichen Patienten fällen zu dürfen. Armut geht in dieser Sicht immer und unter allen Umständen vor Reichtum, wie hart dieser auch erarbeitet sein mag, die große Zahl geht immer über die kleine, Quantität schlägt Qualität. Nun, so kann man vielleicht rechnen, doch mit ärztlichem Ethos hat dergleichen nichts zu tun.

Arzt-Ethik ist keine Weltethik, sondern eine Lokal- und Präsenz-Ethik, eine „Polis-Ethik", wenn man will, deren Regeln sich aus der unmittelbaren Begegnung von Arzt und Patient ergeben. Aus solcher Begegnung speist sich die Leidenschaft des Helfens, des Diagnostizierens und Heilens, auch des Erfindens von Finanzierungsmodellen für den Heilprozeß und – last but not least – die Leidenschaft fürs Aufspüren neuer Heilmethoden. Hier und nirgendwo anders hat die von der Schweizer Pastorin so strafend apostrophierte „Luxusmedizin" ihren Ursprung.

Wobei es, wie der Bioethiker Hans-Martin Sass völlig richtig vermerkte, bei der „Luxusmedizin", auch und gerade bei ihren teuersten Erscheinungsformen, gar nicht um das luxuriöse, nicht einmal um das „gute" Leben geht, sondern einfach um das Leben, um das nackte Leben. Beispielsweise die so teure Suche nach effizienten Behandlungsmethoden bei Krebs oder Aids – sie verdankt sich keineswegs primär eitler Wichtigtuerei oder pharmazeutischer Gewinnsucht, sondern dem ärztlichen Blick in verzweifelte Patientengesichter, die Rettung erflehen. Wie kann man als Pastorin so herzlos darüber urteilen!

Natürlich sieht sich der Arztberuf heute immer dichter umstellt von allerlei Zumutungen, auch Versuchungen, von bestechender Technik, an die sich – scheinbar – Verantwortung delegieren läßt, von gewissen industriellen Angeboten, deren ethisch einwandfreier Impetus nicht immer leicht zu ermitteln ist. Eben deshalb ja das sprunghaft anwachsende Verlangen der Ärzte nach differenzierter, über den hippokratischen Grundkanon hinausreichender ethischer Unterweisung.

Die sich an vielen Universitäten ausbreitende Bioethik versucht, dieses Verlangen zu stillen, sie bedient ein reales Bedürfnis. Sie als „Hofethik" der Ärztekammern und der pharmazeutischen Industrie zu denunzieren, wie das die Schweizer Pastorin auf jener Diskussionsveranstaltung tat, ist schlichtweg hinterhältig, machte den allerschlechtesten Eindruck. Da half es auch nicht, daß sich die Frau am Ende als „MS-Patientin" (Multiple Sklerose) zu erkennen gab und andeutete, daß sie für ihre eigene Person auf teure Sonderbehandlung zugunsten der Dritten Welt verzichte. Sie wird kein einziges hungerndes Kind retten..


 
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