© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   15/98 03. April 1998

 
 
Der Staat ist wieder da
von Dieter Stein

Jan Philipp Reemtsma, vor zwei Jahren Opfer einer spektakulären Entführung, äußerte gegenüber der Presse in Hamburg nach der Festnahme des Haupttäters: Es sei ein „wichtiges Signal" für potentielle Entführer, daß man „mit solchen Verbrechen nicht durchkommt". Damit hat Reemtsma ziemlich knapp umschrieben, welche erzieherische Aufgabe dem Staat zukommt. Hoffentlich ist seine Äußerung nicht nur ein auf seinen individuellen Fall bezogener Erkenntnisprozeß, sondern steht für einen grundsätzlichen Wechsel der Einstellung dem Staat gegenüber. Lange Zeit sind der Staat und seine Organe – auch im demokratischen System – pauschal als „Repressionsapparat" angegriffen worden. Dies galt selbst unter Liberalen als chic. Der Staat kann entarten – das haben wir mehrfach erlebt, dies zu kontrollieren und zu verhindern ist die Aufgabe der Medien und kritischer Bürger.

Die Festnahme des Reemtsma-Entführers Thomas Drach gelang durch „Zielfahndung" des Bundeskriminalamtes. Der Staat hat zugegriffen und wird einen Straftäter verurteilen. Nicht immer gelingt das so erfolgreich. Am vergangenen Wochenende wurde bekannt, daß der Mörder der elfjährigen Christina aus Cloppenburg bereits zwei Jahre zuvor schon einmal eine Vergewaltigung begangen hat. Gäbe es bereits eine zentrale Datenbank mit genetischen „Fingerabdrücken" von Straftätern, hätte man schneller reagieren können, so die Polizei.

Wieder beginnen nun Vertreter eines liberalen und konservativen Rechtsstaatsgedankens miteinander zu streiten, ob es sinnvoll und geboten ist, die Überwachungsinstrumente auszubauen, die technisch möglich sind. Es mag richtig sein, eine solche Datenbank einzurichten. Aber wäre dies nicht auch eine weitere Maßnahme eines schwachen Staates, der wegen seiner mangelhaften Autorität zu immer totalitäreren Überwachungsmaßnahmen greifen muß?

Es ist bemerkenswert, daß im Empfinden des Bürgers die Autorität des Staates abgenommen hat, das individuelle Gefühl der Überwachung, Kontrolle und Gängelung aber zunimmt. Ja: die Grenzen haben sich geöffnet, die Zölle sind gefallen, Post und Bahn werden privatisiert, die Uniformen verschwinden aus den Straßen. Aber das Gefühl individueller Sicherheit hat abgenommen. Der Staat wird als reaktionsschwacher, geldverschlingender Koloß wahrgenommen. Wieviele Lehrer werden von Schülern noch als Autoritäten angesehen? Welchem Polizisten wird Folge geleistet? Welche Steuererklärung wird noch ernst genommen?

Die schweren Straftaten, Mord, Entführung, Vergewaltigung sind die letzte Stufe eines Sitten- und Autoritätsverfalls, der auch in einem schwachen Staat begründet ist.


 
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