© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   15/98 03. April 1998

 
 
Interne Diskussionen: Eine Umkehr der Kirche ist nicht in Sicht
Suche nach Orientierung
von Klaus Motschmann

Christliche Maßstäbe für ein gelungenes Leben spielen in allen gesellschaftlichen und politischen Bereichen unseres Volkes eine immer weniger maßgebliche Rolle. Dies hat auch die Evangelische Kirche erkannt, und sie bemüht sich zunehmend, durch die Veröffentlichung verschiedener „Diskussionspapiere" Maßstäbe und Leitlinien für die kirchliche Neuorientierung zu setzen und damit die Auseinandersetzungen zu strukturieren und unter Kontrolle zu halten.

So hat die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands (VELKD) einen Entwurf für die „Leitlinien des Lebens" veröffentlicht, die Evangelisch-Lutherische Kirche in Hessen-Nassau und Berlin-Brandenburg ein Projektpapier „Evangelisch aus gutem Grund" und die Evangelische Kirche im Rheinland ein „Diskussionspapier" zu den Themen „Sexualität und Lebensformen" und „Trauung und Segnung" vorgestellt. Dabei handelt es sich aber nur auf den ersten Blick um Papiere für den „innerkirchlichen Dienstgebrauch". Nach dem Selbstverständnis der Evangelischen Kirche gibt es eine derartige Begrenzung nicht; es wird auch mit diesen Papieren, durchaus zu Recht, die „christliche Mitverantwortung in der Gesellschaft" dokumentiert. Tatsächlich sind von der Evangelischen Kirche seit 1945 wenn schon nicht entscheidende, so doch zumindest starke Anregungen auf die jeweiligen Neuordnungen als Antwort auf die verschiedenen Herausforderungen im Wechsel der gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen ausgegangen. Man denke nur an die sogenannte Ostdenkschrift 1965, mit der die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition vorbereitet wurde, an die Motivationsschübe für die 68er Revolte, an das Engagement in der Friedens- und Ökologiebewegung; man denke aber auch an die Einleitung der Wende in der DDR und an die zögerliche Haltung der Evangelischen Kirche bei der Vereinigung Deutschlands seit 1990. Es gibt also gute Gründe für die Annahme, daß von der gegenwärtigen innerkirchlichen Diskussion um die erwähnten Papiere kräftige Impulse auf die gesamtpolitische Entwicklung ausgehen.

So unterschiedlich auch die Ansatz- und Schwerpunkte dieser Papiere sind, so lassen sie doch eine gemeinsame Grundlinie erkennen, die eine zusammenfassende Beurteilung bei aller Beachtung der Besonderheiten gestattet. Dazu zählt in erster Linie eine wirklich umfassende Diagnose der Gründe, die für die Veröffentlichung dieser Papiere maßgebend gewesen sind. Denn jeder Versuch einer Therapie setzt bekanntlich eine gründliche Diagnose voraus: Handelt es sich um exogene, also von außen kommende Ursachen, oder um endogene, von innen kommende
Ursachen?

Die kirchlichen Papiere haben eine gemeinsame Grundlinie. In ihnen wie auch in sonstigen Erklärungen von Bischöfen, Kirchenleitungen und Synoden werden in erster Linie von außen kommende Ursachen für die Notwendigkeit einer Neuorientierung genannt. Also etwa Veränderungen der gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen durch eine fortschreitende Säkularisierung. Es wird aber nicht erwähnt, daß diese Entwicklung von der Evangelischen Kirche selbst über Jahrzehnte hinweg maßgeblich gefördert wurde, indem sie entweder zur Unzeit geredet oder aber zur Unzeit geschwiegen und sich in jedem Falle ideologisch einseitig verhalten hat.

Unbestreitbar ist, daß sich aus den genannten Texten eine gewisse Einsicht durchaus herauslesen läßt und daß kirchlicherseits auch die Bereitschaft zur „Umkehr" erkennbar wird. – In diesem Zusammenhang wird in Richtung der konservativ-bekenntnistreuen Christen auch gern an das Gleichnis vom verlorenen Sohn erinnert: Trotz des Bruchs mit dem Vater und trotz eines hemmungslosen Lebenswandels, der ihn bis an den äußersten Rand der menschlichen Gesellschaft führte, ist er von seinem Vater nach der Rückkehr wieder aufgenommen worden. So erklärte kürzlich der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Manfred Kock, in einem Interview mit der Nachrichtenagentur idea: „Ist denn der Verlorene Sohn, als er bei den Schweinen (Hüter – K.M.) war, in Ewigkeit verloren gewesen? Nein. Er schien zwar dort verloren, aber er ist von einem liebenden Vater wiedergefunden worden."

Diese Textinterpretation Kocks zielt am Wesentlichen des Gleichnisses vorbei und verfehlt damit die entscheidende Intention. Zunächst: Der Sohn ist vom Vater nicht „wiedergefunden" worden, sondern der Sohn ist zum Vater auf Grund eines eigenen Entschlusses zurückgekehrt. Sodann hat er ein Schuldbekenntnis gesprochen: „Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, daß ich dein Sohn heiße" (Lukas 15,21). Es ist schon eine bemerkenswerte und die innere Verfassung der Evangelischen Kirche kennzeichnende Argumentation, die nach allen Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte Anlaß zu berechtigten Zweifeln an einer wahrhaften Bereitschaft zur Umkehr im Sinne eines neutestamentlichen Sinneswandels bietet. Dies umso mehr, als es die Evangelische Kirche seit 1945 nicht an immer neuen Bekundungen ihrer Schuld am Aufkommen des Nationalsozialismus hat fehlen lassen und bis heute alles tut, um durch unmißverständliche Erklärungen und Entscheidungen klare Abgrenzungen zu allen sogenannten rechten Kräften in der Gesellschaft die Ernsthaftigkeit ihres nach 1945 vollzogenen Sinneswandels zu dokumentieren.

Wo ist von einem entsprechend radikalen Sinneswandel der Evangelischen Kirche im Rückblick auf ihre positiven Einstellungen zum Sozialismus in der DDR (Stichwort: „Kirche im Sozialimus") und im Westen (Stichwort: „Sozialismus in der Kirche") in den genannten Papieren auch nur im Ansatz etwas zu spüren? Oder wo sonst in der Kirche? Solange aber dies nicht der Fall ist – und angesichts der inneren Verfassung der Evangelischen Kirche wird dies nach menschlichem Ermessen noch längere Zeit so bleiben –, sind starke Zweifel an einer wahrhaft überzeugenden Neuorientierung berechtigt. Die in weiten Teilen fundierte, biblisch-theologische Argumentation kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die angestrebten Leitlinien einen breiten Raum für Interpretationen im Sinne des jetzt vorherrschenden Säkularismus lassen. Dreißig Jahre Kulturrevolution haben auch in der Kirche ihre Spuren hinterlassen. Und die Kirche hat aus eigenem Antrieb diese Entwicklung forciert. Die Befürworter von antiautoritärer Erziehung und multikultureller Gesellschaft stehen heute vor dem Trümmerhaufen ihrer eigenen Utopien. Die Notwendigkeit einer Neuorientierung wird allenthalben anerkannt – und auch betrieben. Die Analysen sind oft zutreffend, doch Konsequenzen sind nicht in Sicht.

Die Bereitschaft zur Neuorientierung hat nicht nur mit dem „Glauben" zu tun, sondern immer auch mit der Glaubwürdigkeit seiner Darstellung in die säkularisierte Welt hinein. Alle großen politischen und gesellschaftlichen Gruppen bemühen sich deshalb um eine überzeugende „Corporate identity", um eine Identität ihres inneren und äußeren Erscheinungsbildes.

Auch die Evangelische Kirche tut das – aber eben doch noch sehr unvollkommen und deshalb wenig überzeugend. Sie packt Projekte an, die sie aufgrund ihrer inneren geistlichen und organisatorischen Verfassung nicht durchführen kann. Sie erliegt Täuschungen, die über kurz oder lang zu weiteren Enttäuschungen führen müssen. Damit wird die Not, die man beseitigen will, nur noch weiter vergrößert.


 
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