© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   15/98 03. April 1998

 
 
Wahlen abschaffen
von Hans B. von Sothen

Seit mehr als einer Woche ist in Frankreich ein merkwürdiges Schauspiel zu beobachten. Der Souverän, das Volk, protestiert gegen sich selbst, gegen seine eigene Wahlentscheidung. In Paris waren es 30.000, in vielen Provinzstädten immerhin einige Tausend. Zielscheibe ist dabei vor allem der Front National (FN), der in den Regionalwahlen gut 15 Prozent der Stimmen erhalten hat. Ziel sind aber auch einige rechtsliberale Provinzfürsten, die sich ohne Unterstützung des FN von ihrer Macht verabschieden könnten. Der Druck der Straße ist erheblich. Bernard Harang, Regionalrat der Region „Centre" beklagte sich nicht nur über den „Druck der Medien", sondern auch über körperliche Übergriffe, bevor er freiwillig auf seine Wiederwahl verzichtete.

 

Philippe Séguin vom gaullistischen RPR und François Léotard von der UDF haben nun jedem mit Parteiausschluß gedroht, der mit dem FN paktiert. Doch die Front bröckelt. Charles Baur Regionalratspräsident der Picardie, Charles Millon von Rhône-Alpes und Jacques Blanc von Languedoc-Roussillon sind nur mit Hilfe des FN wiedergewählt worden. Dabei mag auch ein gehöriges Maß an Machterhaltungstrieb eine Rolle gespielt haben.

Eine innere Affinität zum FN ist bei den UDF-Provinzchefs nicht notwendigerweise gegeben. Charles Millon etwa würde sofort auf eine Wahl durch den FN verzichten, wenn Präsident Chirac sich zu einer Wahlreform und Neuwahlen entschließen könnte. Zumindest, was die Wahlreformen angeht, hat der Präsident auch bereits Vertreter aller Parteien – mit Ausnahme des FN – zu sich gebeten. Man kann sicher sein, daß am Ende dieser Entwicklung ein Wahlrecht stehen wird, das allen nützt und allein dem FN schadet. Man kann zum FN durchaus ein gespaltenes Verhältnis haben, aber daß ein solches Verhalten des Establishments den Durchschnittsfranzosen aus der Provinz noch mehr in die Arme des FN treiben wird, ist ebenso sicher. Die Wut auf Paris und den Zentralstaat, der sich das ihm genehme Wahlergebnis über entsprechende Wahlrechtsänderungen nach Lust und Laune selbst bestimmen kann, wächst. Doch die politischen Probleme werden sich so nicht lösen lassen.

Sozialisten und Kommunisten zeigen nun einerseits mit dem Finger auf die bürgerlichen Parteien und freuen sich andererseits, daß ihnen dieser Streit auf viele Jahre hinaus einen strategischen Vorteil bescheren wird. Selbstgerechtigkeit von dieser Seite ist jedoch fehl am Platze. Man muß daran erinnern, daß es der Sozialist Mitterand war, der 1986 das Verhältniswahlrecht einführte. Sein Kalkül, den FN als Konkurrenz zur bürgerlichen Rechten aufzubauen und die Rechte damit zu spalten, ist aufgegangen.


 
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