© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/98 10. April 1998

 
 
Aufklärung: Der ehemalige Fluchthelfer Rainer M. Schubert zur deutsch-deutschen Geschichte
"Von eigener Feigheit ablenken"
von Peter Krause

 

Herr Schubert, Sie sind Vorsitzender der Aufarbeitungs-Initiative Deutschland. Welche Ziele verfolgt Ihre Initiative?

SCHUBERT: Acht Jahre nach der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands beginnt die Erfahrung totalitärer Herrschaft in Vergessenheit zu geraten. Fragen des Alltags drängen sich in den Vordergrund. Damit aber droht die Gefahr der Geschichtslosigkeit, der bloßen Fixierung auf die Gegenwart, droht der Verlust von Erfahrungen, die gerade zur Gestaltung unserer Zukunft erforderlich sind. Um diesen Gefahren zu begegnen, hat sich Ende 1997 die Aufarbeitungs-Initiative Deutschland (AID) gegründet.

Wer arbeit in der AID mit?

SCHUBERT: In unserer Initiative haben sich auf überparteilicher Grundlage Deutsche aus Ost und West, Opfer totalitärer Gewalt, Widerstandskämpfer, aber auch ehemalige Anhänger totalitärer Systeme zur Aufarbeitung der gemeinsamen Vergangenheit und zur Zukunftsgestaltung zusammengefunden.

Opfer und Täter arbeiten jetzt Hand in Hand?

SCHUBERT: Im Vorstand arbeitet auch Hagen Koch, ein ehemaliger Hauptmann des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) beim Wachregiment "Feliks Dzierzynski". Koch zog 1961 am Checkpoint Charlie den ersten weißen Grenzstrich, und er übergab nach dem Untergang der DDR die Schlagbäume an das Museum "Checkpoint Charlie". Er leitet das "Berliner Mauer-Archiv", die wohl umfangreichste Dokumentensammlung zur Mauer.

Gibt es Probleme wegen dieser Mitarbeit?

SCHUBERT: Natürlich, aber wir müssen über persönliche Befindlichkeit hinauskommen, und das bedeutet auch, mit ehemaligen Angehörigen des MfS zusammenzuarbeiten, so diese guten Willens sind. Wenn das Wort "Aufarbeiten" Sinn machen soll, wenn wir uns nicht nur ständig in die trüben Augen schauen und uns über unser Leiden unterhalten wollen, muß ich auch die andere Seite einbeziehen. Die Sache wird sonst nicht transparent.

Wie sieht Ihre Arbeit konkret aus?

SCHUBERT: Die AID führt Seminare durch, unter anderem im zentralen Untersuchungsgefängnis des MfS in Berlin-Hohenschönhausen: wir zeigen dort auch das "U-Boot", die Folterzellen der Stasi. Wir legen zudem Wert auf mobile Seminare, sind also sehr oft unterwegs. Und wir fördern Forschungsvorhaben zu Themen totalitärer Herrschaft und ihrer Auswirkungen, betreuen Opfer politischer Verfolgung, organisieren Ausstellungen und geben Publikationen heraus. Auch im Internet sind wir präsent.

Können Sie Ihre Forschungsarbeit an einem Beispiel erläutern?

SCHUBERT: Wir bekommen sehr viel Unterlagen von Opfern des Kommunismus. Gegenwärtig sammeln wir Material von Verurteilten des Sowjetischen Militär-Tribunals. Das sind erschütternde Fälle. Wir versuchen die Opfer, aber auch Mittäter zu befragen – und dabei müssen wir uns beeilen, denn die Leute sind sehr alt. Das lebendige Wissen über ein verdrängtes Kapitel deutscher Geschichte geht sonst verloren, eine unschätzbare Erfahrung.

Von wem werden Sie unterstützt?

SCHUBERT: Wir haben einen Stamm von Zeitzeugen, Wissenschaftlern und anderen Fachleuten.Wir arbeiten hierbei mit nationalen und internationalen Einrichtungen zusammen, vor allem mit dem "Haus am Checkpoint Charlie" und der Bundeszentrale für politische Bildung in Bonn.

Wir arbeiten noch ohne öffentliche Unterstützung; wir warten auch nicht auf die Schecks der öffentlichen Hand. Unser Ziel ist eine gemischte Finanzierung, also Spenden und öffentliche Gelder. Wir erleben immer häufiger, daß wir privat eingeladen werden, um Referate zu halten. Kürzlich war ich in einer Hamburger Schule, wo die Schüler das Seminar selbst organisiert und bezahlt hatten.

Worin unterscheidet sich die Arbeit der AID inhaltlich von anderen Opferverbänden?

SCHUBERT: Wir wollten etwas Neues machen. Das betrifft nicht nur die Einbeziehung der Täterseite. Unsere Seminare finden auch deshalb an authentischen Orten statt, etwa Sachsenhausen, um gewisse Analogien und Kontinuitäten aufzeigen zu können. Einige Kapitel der deutschen Geschichte werden nämlich nicht so vermittelt, wie sie es verdient hätten. Konzentrationslager gab es auch nach 1945, und das müssen wir immer wieder ins Bewußtsein rücken. Wir wollen die ganze Geschichte zeigen.

"Die DDR hat nicht nur aus der Stasi bestanden"

Können Sie verstehen, wenn angesichts aktueller Sorgen immer häufiger die Forderung erhoben wird, die Vergangenheit ruhen zu lassen?

SCHUBERT: Nein! Ich muß erst wissen, was war, um zu erkennen, was ist.

Wie groß ist das Interesse für die Seminare Ihrer Initiative?

SCHUBERT: Ich habe vor einigen Jahren im Haus Checkpoint Charlie in Berlin begonnen, Referate zu halten. Da habe ich erst gemerkt, welcher große Bedarf an der DDR-Geschichte besteht. Ich glaube auch, das Geschichtsinteresse wächst. Die Leute wenden sich immer mehr ihrer eigenen Geschichte zu. Sie sehen die herrschenden verzerrenden Darstellungen und wollen mehr wissen.

Sehen Sie das nicht etwas zu optimistisch, wird nicht das Geschichtswissen gerade Jugendlicher immer geringer, immer einseitiger und dadurch auch besser manipulierbar?

SCHUBERT: Das ist schon richtig, wir haben vor allem ein Publikum, das schon ein gewisses Interesse an deutscher Geschichte mitbringt. Aber gerade das Interesse der Schüler wächst, oft gegen die Doktrinen ihrer Lehrer. Aber weil das allgemeine Geschichtsbewußtsein sinkt, ist die Arbeit der AID notwendig.

Welche Rolle spielte die Staatssicherheit in der ehemaligen DDR?

SCHUBERT: Hier müssen wir wieder beginnen, die Prioritäten richtig zu setzen. Die Geschichte der DDR wird in Medien und Politik gern auf die Stasi verkürzt. Das MfS aber war kein Staat im Staate. Sie war das Erfüllungsinstrument der Politik, sie war "Schild und Schwert der Partei". Wer heute den Blick auf die Stasi verengt, will von anderen Sachen ablenken.

Was meinen Sie damit?

SCHUBERT: Man darf nicht so tun, als hätte die DDR nur aus der Stasi bestanden und als wenn im Westen alle immer an der Mauer gerufen hätten: "Freiheit für unsere Brüder und Schwestern!" Da gab es ab und zu Rituale. Dann war die Sache abgehakt, dann wurde wieder eifrig Entspannungspolitik betrieben. Und Entspannungspolitik hieß: sich gemeinsam entspannen in der Schorfheide. Und das hat den DDR-Bürgern kaum etwas gebracht, sondern nur den Westdeutschen freie Fahrt auf den Transitwegen.

Der Blick der Aufarbeitungs-Initiative richtet sich also zuerst nach Westen?

SCHUBERT: Die entscheidenden Erkenntnisse über den Unrechtscharakter der DDR liegen vor. Jetzt geht es nicht mehr um den allerletzten Stasi-Spitzel, sondern um die Erhellung der Zusammenarbeit von DDR- und West-Politik. Die herrschende Meinung im Westen benutzt die DDR-Geschichte, um von eigenen ideologischen Versäumnissen abzulenken. Die DDR erinnert die 68er an ihre eigene Verblendung, ihre eigene Heuchelei. Und wenn sich Vergangenheit nicht verklären oder als ideologische Waffe benutzen läßt, muß sie verschwiegen werden. Daher rührt die einseitige Sicht auf die DDR. Der Osten war doch die liebste Spielwiese der politischen Klasse in der Bundesrepublik. Da konnte man sich ohne jede Verantwortung tummeln. Und dann kam der große Schock, und dann wurde die Dialektik entdeckt: ja, das war ja gar kein Sozialismus dort.

Die AID will die Entspannungspolitik von ihrer anderen Seite zeigen?

SCHUBERT: Das Zusammenspiel der West-und Ost-Politik, auch die Schönfärberei der West-Medien, muß auf den Tisch. Wer sich der Vergangenheit durch Schweigen entledigen will, hat keinen Anspruch auf die Zukunft. Wenn Gerhard Schröder 1986 an Egon Krenz schrieb: "Ich wünsche Dir viel Durchhaltungskraft für die Volkskammerwahl", dann ist das schlimme politische Anbiederei. Wir müssen zeigen, wie bequem und feige die Entspannungspolitik zuweilen war.

Wie bequem und feige war denn die Politik?

SCHUBERT: Erinnern Sie sich bitte daran, daß Horst Grabert, Staatssekretär im Bundeskanzleramt, 1973 allen Ernstes im Auftrag der Regierung hat prüfen lassen, ob man Fluchthilfe auch in der Bundesrepublik unter Strafe stellen könnte. So weit ging die Annäherung schon. Die westdeutsche Politik hatte vielfältige freundschaftliche Kontakte mit DDR-Politikern. Und nach der Wende haben sich die Parteien ihren Hausdissidenten zugelegt, mit dem sie immer schon Kontakt gehabt haben wollten. Horst Ehmke ist in Wendezeiten noch schnell zu Bärbel Bohley gefahren, um sich von der Stasi in "gefährlicher" Situation fotografieren zu lassen.

Können Sie sich vorstellen, daß die Aufarbeitung der DDR-Geschichte einen ähnlichen Verlauf nimmt wie der Umgang mit der NS-Zeit?

SCHUBERT: Das hoffe ich nicht, denn jene ist sehr einseitig. Ich habe den Eindruck, daß es in der politischen Klasse und der sogenannten öffentlichen Meinung schon jetzt die Tendenz gibt, am liebsten nur noch über den Nationalsozialismus reden zu wollen und die deutsche Geschichte darauf zu verengen. Die AID hat den Anspruch, das Funktionieren totalitärer Herrrschaft zu vermitteln, und da gibt es zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus eine Menge Parallelen.


 
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