© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/98 17. April 1998

 
 
Das Erbe von 1968: Aus einem moralischen Aufbruch wurde ideologische Erstarrung
Nachruf auf eine Revolte
von Werner Olles

Die Revolte von 1968 wird dreißig Jahre später fast schon begangen wie ein Verfassungstag. Aus den Gesellschaftsveränderern wurden die Manager des Status quo. Die Ideen, die sie bewegten, sind fast vergessen, die großen Namen der Ideengeber haben ihre Faszination verloren.

Wer waren die geistigen Vorväter der Studentenbewegung? Weder Marx noch Mao, sondern Wilhelm Reich und Jean-Jacques Rousseau. Reich, kommunistischer Renegat und Ideologe der liberalen Permissivität, und Rousseau, Kritiker des Individualismus und Vordenker eines tugendhaften Sozialismus. Zwei Gelehrte, die unterschiedlicher gar nicht sein konnten, standen an der Wiege der 68er, weil beide im Menschen primär ein "zoon politikon" sahen. Aus dieser Beziehung entstand die der Bewegung eigene Mischung aus Sex und Gewalt, Idealismus und ideologischer Besessenheit.

Mit dem von Jürgen Habermas "ethische Vergewisserung" genannten Appell wurde der Heideggersche Rekurs zum Wald und zur Ganzheitlichkeit, für den sich einige wenige Intellektuelle unter den Genossen des SDS entschieden hatten, zugunsten der neuen linken Steckenpferde zurückgedrängt. Auch der unübersehbare Einfluß des Sozialphilosophen Herbert Marcuse auf die Bewegung trug nicht wenig dazu bei, daß aus den anfänglich subtilen Gereiztheiten der Intellektuellen schließlich jene militante Strömung erwuchs, welche die bundesdeutschen Befindlichkeiten nachhaltig verändern sollte.

Nach den ersten hysterischen Reaktionen des Establishments gegen die 68er traten bald zwei Grundüberzeugungen hervor: ein Gewaltmonopol des Staats gibt es nicht, und die Gewalt von Minderheiten ist prinzipiell ein Akt repräsentativer Notwehr. Und es galt das ideologische Vakuum zu füllen, das eine nur noch an der Ökonomie orientierte Gesellschaft über zwei Jahrzehnete nach dem Ende des Nationalsozialismus hinterlassen hatte.

Hans-Jürgen Krahl, ehemaliger Jung-Unionist, Burschenschafter und Welfe der brillanteste Kopf der 68er, der seine adelige Herkunft nie verbergen konnte und wollte und von den Genossen gehaßt wurde, hat dieses folgenlose Denken bis zu seinem Tod gnadenlos bekämpft. Als er gegangen war, setzte sich der Exterminismus rigoros durch. Ernst Herhaus, Dichter, Alkoholiker und Bewunderer Ernst Jüngers, hat das Bedürfnis nach Homogenität und Kohäsion in der verbliebenen Neuen Linken mit wahren Bannflüchen gegeißelt. Verzweifelt schrie er seine Wut auf die Mediokrität der Fischers, Koenigs, und Plottnitz’ heraus, ein Berserker der Ehrlichkeit, der nie in die Versuchung gelangte, über den linientreuen Restbestand der revolutionären Linken den Mantel der Liebe zu decken.

Als legitime Nachfahren der 68er stellten sich die RAF und die Grünen heraus. Beide wurden im Dunst der "bleiernen Zeit" der siebziger Jahre geboren und waren fabelhaft ausgestattet mit den defekten Genen des deutschen Idealismus und jenem Fünkchen linker Identität, das die Tugendhaften schon immer brauchten, wenn sie zur Tat schritten. Aber während sich im Terror der Rotarmisten eine Götterdämmerung zusammenbraute, wurden die Grünen geboren.

Der verlassenste und heimatloseste Teil der 68er sind jedoch ihre Renegaten. Deren Zerrissenheit liegt darin, daß sie zwar die äußere Hülle abstreifen konnten, den inneren Kern jedoch nicht, und daß die Rechte – wie alle anderen – zwar den Verrat, aber keineswegs den Verräter liebt. Dennoch haben die Renegaten – im Vergleich zu ihren ehemaligen linken Genossen – wesentlich mehr geleistet und gelernt. Vor allem wissen sie um den "Terror der Vorahnung": "Zwischen den Kräften des Hergebrachten und denen des ständigen Fortbringens, Abservierens und Auslöschens wird es Krieg geben!" (Botho Strauß). Die Tragödie der Renegaten von 68 ist auch die der 68er selbst. Deutschland vereint sich, um sich in der ideologischen Verblendung wieder zu teilen.


 
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