© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/98 17. April 1998

 
 
Kanada: In der Eisbärenhauptstadt kommen Diebe kurzerhand hinter Gitter
Nanuq, der große Wanderer
von Ulrich Karlowski

Das wohl ungewöhnlichste Gefängnis der Welt liegt an der Hudson Bay in der kleinen Stadt Churchill hoch im Nordosten Kanadas. Seine äußerst engen Zellen wurden für ganz besondere Insassen gebaut: Eisbären, die größten und gefährlichsten Landraubtiere der Welt. Außerdem verfügt Churchill über eine spezielle, mit Narkosegewehren ausgerüstete Eisbärenpolizei und die Notrufnummer "BEAR", mit der diese herbeigerufen werden kann, wenn wieder einmal einer der über zweieinhalb Meter großen und bis zu 800 Kilogramm schweren Bären neugierig durch die Straßen streift und die Bewohner in Angst und Schrecken versetzt.

Die Könige der Arktis, von den Ureinwohnern, den Inuit, "Nanuq", der große Wanderer genannt, stehen am Ende der Nahrungskette. Ausgestattet mit unglaublicher Kraft und Geschicklichkeit, überlisten sie Robben an ihren Atemlöchern und sind sogar in der Lage, Belugawale aus dem Wasser auf Eisschollen zu ziehen. Trotz einer perfekten Anpassung an einen unwirtlichen Lebensraum gab es Mitte der fünfziger Jahre nur noch etwa 5.000 der großen Bären. Jagdverbote führten dazu, daß der Bestand sich heute auf vielleicht 21.000 bis 40.000 Exemplare erholt hat. Exakte Zahlen gibt es nicht, da es schwer ist, die mit der Eisdrift rund ums Polargebiet wandernden Tiere zu zählen.

Wenn mit dem Wintereinbruch das Packeis in der Hudson Bay gefriert, wandern die kanadischen Polarbären von der Südwestküste der Bay über tausend Kilometer weit nach Norden, um Robben zu jagen. Am Ende dieser Jahrtausende alten Wanderroute liegt heute die Stadt Churchill und ihre für die hungrigen weißen Riesen unwiderstehliche Müllhalde, die von den Bewohner ironisch "Eisbären-Cafeteria" genannt wird.

Bis 1976 begrüßte man die regelmäßig zur "Eisbären-Hochsaison" zwischen Oktober und November auftauchenden Gäste noch auf die radikalste Art und brannte ihnen eine Kugel auf den Pelz. Nachdem 1975 die fünf Arktisstaaten USA, Kanada, Dänemark, Norwegen und die UdSSR ein Abkommen zum Schutz der Eisbären unterzeichnet hatten, starteten die kanadischen Behörden das "Management for Bear Conservation and Human Safety"-Programm, damit Interaktionen zwischen Bären und Menschen fortan einen friedlichen Ausgang nehmen sollten.

Seitdem ist Churchill von einem Schilderwald umstellt: "Eisbärengefahr!" Zusätzlich kontrollieren Eisbärenpatrouillen regelmäßig die Abfallhalde und die überall in der Stadt aufgestellten Lebendfallen, die mit Robbenfleisch, der Lieblingsspeise der Bären, beködert sind. Schnappt die Falle zu, findet sich der Eisbär anschließend in einer Zelle ohne Bewegungsmöglichkeiten wieder, wo er zudem lediglich Wasser erhält. Nach maximal 22 Tagen, oder sobald die Hudson Bay zufriert, fliegt ein Hubschrauber das narkotisierte Tier weit hinaus aufs Eis.

Etwa 60 bis 90 Eisbären, darunter auch Weibchen mit Jungtieren, müssen jedes Jahr diese Tortur ertragen. Erhielten die ungewöhnlichen Gefangenen früher Nahrung, so ist man heute davon abgekommen. Die Zeit der Gefangenschaft soll zu einer derart unangenehmen Erfahrung werden, daß die gefürchteten Raubtiere niemals wieder zurück kommen, denn sie bekommen nur zwei Chancen, den "Stadtbummel" zu überleben. Taucht derselbe Bär zum dritten Mal auf, schläfert man ihn ein, Jungtiere werden an Zoos abgegeben. "Es ist positiv zu werten, daß in diesem Interessenkonflikt zwischen Mensch und Tier Lösungen gefunden wurden, bei denen die Tiere nicht automatisch auf der Strecke bleiben", kommentiert Martin Riebe, Geschäftsführer der deutschen Sektion der "World Society for the Protection of Animals" (WSPA). Auch für Malcolm Ramsay, Biologe an der Universität von Saskatchewan, sind die Entbehrungen, die die Eisbären ertragen müssen, die vernünftigste Lösung: "Die Bären fasten von Ende Juli bis in den November, wenn sie hier bei uns in Manitoba an Land sind. Sie nicht zu füttern, entspricht der Situation in der freien Wildbahn. Gäbe man ihnen Nahrung, dann würden sie immer wieder Siedlungen aufsuchen, was unweigerlich den Tod vieler Eisbären zur Folge hätte." Durch das Eisbärengefängnis wurde hingegen unter großem finanziellen Aufwand ein Freiraum geschaffen, "in dem Mensch und Raubtier friedlich nebeneinander existieren können".

Verschlägt es einen Eisbären bereits im Sommer nach Norden, dann werden aus wenigen Tagen Monate vergitterter Monotonie, denn die Gefängnistüren öffnen sich erst im Winter. "Ob die dann ziemlich entkräfteten und ausgehungerten Tiere überhaupt noch eine Überlebenschance haben, ist fraglich", befürchtet Martin Riebe. Für Nanuq ist es also ratsamer, einen großen Bogen um die "Eisbärenhauptstadt" zu machen.


 
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