© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/98 17. April 1998

 
 
Zurück in die Zukunft
von Martin Otto

Baden-Württemberg – Die tun was. Letzte Meldung aus dem Musterländle: Weg mit der gymnasialen Oberstufe, alles wieder wie früher, bis zum Abitur Unterricht im Klassenverband.

Wir erinnern uns: Anfang der siebziger Jahre blieb auch das Lieblingskind Humboldts, das deutsche Gymnasium, nicht vom Reformeifer der Brandt-Ära verschont. Ab der elften Klasse wurden die Schüler nicht mehr in Klassen, sondern in Kursen unterrichtet, an die Stelle des Klassenlehrers trat der Oberstufentutor. Die ganze Reform sollte, wem auch sonst, den Schülern nützen, ihren Neigungen gerechter werden. Ungewollte Folgen blieben nicht aus: Die Schüler konnten sich ihre Kurse selbst zusammenstellen. Man wählte sich die Lehrer, die den geringsten Widerstand versprachen. Dabei blieb das Lernziel leider zu oft auf der Strecke, das Abitur gab es trotzdem. Schon bald war die Rede vom "Pudding-Abitur" oder der todsicheren Abiturkombination "Singen-Springen-Beten", nämlich Musik-Sport-Religion, eine Hochschulreife die diesen Namen kaum verdiente, unter totalem Verzicht auf Kernfächer wie Deutsch oder Mathematik.

Die Gegenreform blieb nicht aus. Die Kultusminister wurden sich bald einig, daß es so nicht weitergehen könne; das Kurssystem wurde beibehalten, doch die Wahlmöglichkeiten der Schüler eingeschränkt. Dem "Abi-light" war nur eine kurze Lebenszeit beschieden. Gewisse Unterschiede zwischen den Abiturprüfungen der einzelnen Bundesländer blieben bestehen. Baden-Württemberg, das Land mit Zentralabitur und völligem Verzicht auf sozialdemokratische Bildungsexperimente, hatte sich da immer einen besonders guten Ruf bewahrt.

Annette Schavan, CDU-Kultusministerin in Stuttgart, will es nun noch besser machen. Mag der Bildungsstandort Deutschland auch nicht mehr halten, was er verspricht, in Baden-Württemberg ist die Welt noch in Ordnung. Jetzt kommen die dortigen Gymnasiasten sogar bis zum Abitur in den Genuß der vermeintlichen heilen Welt der Klassengemeinschaft. Manches mag tatsächlich für diese Rückkehr sprechen, eine große Innovation ist es nicht; vielmehr eine Rückkehr ins Gestern – ohne Notwendigkeit. Ob die Schüler nun die letzten drei Jahre lang in Klassen oder Kursen unterrichtet werden, das wissen auch Frau Schavan und der Philologenverband, davon hängt Wohl und Wehe des deutschen Schulsystems am wenigsten ab. Produziert wird in Stuttgart nun ein immenser Verwaltungsaufwand, das Südwest-Abitur wird weder besser noch schlechter, und eine Landesregierung führt vor, wie man in Zeiten knapper Mittel bildungspolitische Innovation simuliert.


 
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