© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/98 17. April 1998

 
 
Urteil: Bundesverfassungsgericht erklärt Teile des Wahlrechts für verfassungswidrig
Ein Votum gegen die Allmacht
von Martin Otto

Immer wieder Überhangmandate. Sie fallen an, wenn eine Partei mehr direkt gewählte Wahlkreisabgeordnete ins Parlament entsenden darf, als ihr nach dem Ergebnis der Zweitstimmen eigentlich zustehen.

Bei der letzten Bundestagswahl 1994 profitierte die CDU davon; die eigentlich denkbar knappe Mehrheit der Regierung Kohl konnte so – gegen den Wählerwillen – schon fast komfortabel ausgebaut werden. Sehr zum Leidwesen der Sozialdemokraten, die freilich auch, etwa in Bremen oder dem Saarland, von dieser Regelung profitierten.

Nur knapp, nämlich mit Stimmengleichheit, erklärte der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts im April 1997 im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde des Landes Niedersachsen die Überhangmandate für verfassungskonform. Mit einem neuen Beschluß der Karlsruher Richter wird dieses Urteil nun überraschend relativiert.

Schied bislang ein durch Mehrheitswahl bestimmter Inhaber eines Überhangmandates vor Ende der Legislaturperiode aus dem Bundestag aus, rückte ein Kandidat der Landesliste seiner Partei nach. Nach einem jetzt wiederum vom Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts einstimmig gefällten Beschluß vom 7. April 1998 ist diese Regelung verfassungswidrig. Mithin wurde seit 1953 in nicht wenigen Fällen ein Sitz im Bundestag gegen das Grundgesetz besetzt.

Zugrundeliegend war das Wahlprüfungsverfahren eines Bürgers aus dem Südschwarzwald. Im Bundestagswahlkreis 187 (Emmendingen-Lahr) verstarb der direkt gewählte Abgeordnete Rainer Haungs (CDU) mitten in der Wahlperiode im Februar 1996. Für Haungs rückte von der CDU-Landesliste Baden-Württemberg Franz Donner nach. Der Kläger sah hier den Wählerwillen verletzt, verfügte doch die CDU im Südweststaat schon über zwei Überhangmandate, und erhob beim Deutschen Bundestag Einspruch, der im Juni 1996 zurückgewiesen wurde. Daraufhin wurde vor dem Bundesverfassungsgericht Wahlprüfungsbeschwerde erhoben. Jetzt liegt erstmals in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts eine inhaltlich erfolgreiche Wahlprüfungsbeschwerde eines Bürgers vor.

Unterläßt der Bundestag jetzt eine gesetzliche Neuregelung des Nachrückverfahrens, dürfen Überhangmandate nach vorzeitiger Mandatsbeendigung nicht mehr neu besetzt werden; die Mitgliederzahl des Bundestages wäre dann im Laufe einer Wahlperiode deutlichen Schwankungen unterworfen. Für diese Legislaturperiode halten die Richter ein Festhalten an der bisherigen Regelung noch für "hinnehmbar".

Die SPD gibt sich vorerst gelassen; laut Fraktionsgeschäftsführer Wilhelm Schmidt könne man sich "ganz locker zurücklehnen". SPD-Fraktionssprecherin Marion Uhrig erklärte gegenüber der jungen freiheit, daß bis Mai mit einer gesetzlichen Regelung zu rechnen sei; diese müsse jedoch von allen Parteien getragen werden. Spekulationen über eine mögliche Änderung des Wahlrechts entbehrten zunächst jeder Grundlage. Von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die eine Vielzahl von Abgeordneten mit Überhangmandat in ihren Reihen hat, war eine Stellungnahme nicht zu bekommen.

Im Sinne des Karlsruher Urteils wäre am ehesten eine Nachwahlregelung, wie es sie im Bundeswahlgesetz bis 1953 schon einmal gab, und wie man sie etwa aus England kennt. In jedem Fall ist der Karlsruher Beschluß, das wurde von vielen Beobachtern übersehen, ein Votum gegen die Allmacht der Parteien. Ausdrücklich heißt es dort: "Mit der Mehrheitswahl wird der Abgeordnete als Person und nicht als Exponent einer Partei gewählt."


 
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