© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/98 17. April 1998

 
 
Studie: Jeder Zweite junge Deutsche kann nicht richtig schreiben
Volk von Legasthenikern
von Konrad Kranz

Das Vermögen der Deutschen, richtig zu schreiben, hat sich in den vergangenen Jahren stark verschlechtert. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Heidelberger Psychologinnen Claudia Zerahn-Hartung und Ute Pfüller, die jetzt vorgestellt worden ist. 1995 wurde untersucht, wie sich die Rechtschreibleistungen junger Deutscher verändert haben. Als Vergleich diente eine Untersuchung aus dem Jahr 1968: beide Tests beruhen auf dem Lückendiktat "Moselfahrt". Das vor 30 Jahren entwickelte Diktat testet Groß- und Kleinschreibung ("am Morgen", "Dreißigjähriger Krieg", "angst und bange"), Silbendehnung ("schmählich"), Konsonantenverwechslung ("unentgeltlich"), Getrenntschreibung ("zum ersten Mal"), Endungen ("eilends"), Superlative ("bedeutendsten") und Umlaute. Der Test enthält nur solche Wörter, deren Schreibweise eindeutig geklärt ist.

Das Ergebnis der neuen Untersuchung ist sehr schlecht: die durchschnittliche Fehlerzahl hat sich im Vergleich mit demselben Diktat 1968 verdoppelt. In jenem Jahr hatten nur fünf Prozent der untersuchten jungen Erwachsenen die Note "ungenügend" bekommen. Bei gleichem Maßstab erhielten heute 39,1 Prozent der untersuchten Personen diese Zensur. Nimmt man die 9,1 Prozent mit "mangelhaft" zu bewertenden Diktate hinzu, hätte jeder zweite Deutsche "nicht ausreichende" Rechtschreibfähigkeiten. Insgesamt 7,8 Prozent der Probanden zeigten eine Rechtschreibleistung unter dem Durchschnitt der vierten Klasse.

Bei dem Diktat mit 65 in den Lückentext einzufügenden Wörtern hat sich die durchschnittliche Zahl der Fehler innerhalb einer Generation von zehn auf zwanzig erhöht. 1968 waren zehn Prozent der Untersuchten mit der Note "sehr gut" beurteilt worden; 1995 haben bei gleichem Bewertungsmaßstab nur knapp zwei Prozent diese Note erreicht.

Die Studie von Zerahn-Hartung und Pfüller wurde in der "Arbeitsgruppe Legasthenie" der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychatrie an der Heidelberger Universität angefertigt. Das Diktat schrieben 592 Personen deutscher Muttersprache im Alter zwischen sechzehn und dreißig Jahren. Alle Probanden hatten mindestens die Pflichtschulzeit von neun Jahren absolviert. Es nahmen Schüler aus acht Berufsschulen und zwei Gymnasien aus der Stadt und dem Landkreis Heidelberg sowie Studenten der Universität Heidelberg teil. Die Stichprobe war "nahezu repräsentativ": Unter den Geprüften befanden sich Teilnehmer aller Bildungsniveaus und Berufssparten entsprechend der baden-württembergischen Landesstatistik.

Zerahn-Hartung und Pfüller stellten auch einen auffälligen Geschlechterunterschied fest: Die Diktate der Männer hatten im Durchschnitt fünf Fehler mehr auf als die der Frauen. Und mit dem Schulabschluß variierten auch die Fehlerzahlen. Versuchspersonen mit Hauptschulabschluß wiesen im Durchschnitt 28,7, Probanden mit mittlerer Reife 17,4 Fehler auf, Abiturienten machten 12,1 Fehler. Kein Proband konnte das Diktat fehlerlos schreiben.

Die Untersuchung belegt nun statistisch erstmals methodisch abgesichert, daß sich die Rechtschreibleistungen der Deutschen erheblich verschlechtert haben. Sie bestätigt Klagen von Ausbildungsbetrieben und Universitäten. Den Hauptgrund für die nachlassende Rechtschreibfertigkeit sehen die Autorinnen darin, daß die durchschnittliche Lesezeit stark zurückgegangen sei.

Interessant sind die Ergebnisse einer nebenherlaufenden Untersuchung, und zwar zur sprachfreien, "fluiden Intelligenz". Die Heidelberger Forscherinnnen prüften diese grundlegende geistige Leistungsfähigkeit bei 582 der 592 jungen Erwachsenen. Hier bot ein Test von 1977 die Vergleichsgrundlage. Gegenüber diesem standardisiertenTest (CFT 20) boten die Probanden vor drei Jahren 110,8 Prozent der damaligen Leistungen. Eine eindeutige Erklärung gibt es für diese Steigerung nicht. Es könnte daran liegen, daß junge Menschen heute weitaus stärker optischen Reizen ausgesetzt seien, daß sie daher schneller und besser visuell-figurative Aufgaben lösten. Und Computerkenntnisse förderten den Umgang mit abstrakten Operationen. Ein Grund für die Steigerung abstrakter Intelligenz könnte aber auch in der besseren Ernährung liegen.

Die auseinanderdriftende Entwicklung immer schwächerer Rechtschreib- und größerer Intelligenztestleistung weise, so die Forscherinnen, auf die Tendenz zu einer "Gesellschaft von Legasthenikern" hin. Legasthenie ist folgend definiert: eine durchschnittliche Intelligenz liegt vor, keine neurologische Krankheit, keine Störungen des Sehens oder Hörens sind festzustellen, aber die Rechtschreibleistungen sind extrem schlecht. Legt man Kriterien der Weltgesundheitsorganisation über Legasthenie (ICD 10) zugrunde, ist jeder vierte junge Deutsche ein Legastheniker – und "behandlungsbedürftig".


 
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