© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/98 24. April 1998

 
 
Krankenkassen: Zweierlei Abrechnungssysteme
Geheimnisse auf Chip-Karten
von Kai Guleikoff

Am 18.April 1998 fand in Leipzig der "1. Ostdeutsche Kassenärztetag" statt. Von den 18.000 Arztpraxen in den neuen Bundesländern waren immerhin 2.500 dem Aufruf der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) gefolgt. Die Notwendigkeit der Veranstaltung wurde mit den vorhandenen "gravierenden Unterschieden" zwischen den alten und den neuen Bundesländern im Abrechnungssystem ärztlicher Leistungen begründet. Die Kassenärzte gehören in den neuen Bundesländern zu den größten Arbeitgebern und sehen bei der derzeitigen ökonomischen Situation der Praxen ihr Personal von der Arbeitslosigkeit bedroht.

Die im Aufruf angesprochenen "gravierenden Unterschiede" ergeben sich ursächlich aus der Tatsache, daß die Arbeitslosigkeit in Mitteldeutschland doppelt so hoch ist wie in Westdeutschland. Das Beitragsaufkommen ist dadurch um ein Vielfaches geringer und die Defizite der Ost-Kassen wachsen. Angekündigte Ausgleichszahlungen zwischen den Kassen untereinander sind bisher nicht in ausreichendem Maße zustande gekommen. Die Ost-West-Schieflage versuchen die Krankenkassen durch ein unterschiedliches Punktesystem "aufzufangen".

Die Zweiteilung Ost und West nach dem Arbeitsort beginnt bereits auf der Versichertenkarte. Die Ziffer rechts neben der Statuszahl kennzeichnet mit "1" die Westdeutschen und (Gesamt-)Berliner, die "9" die Bürger der neuen Bundesländer. Auch die Statuszahl ist nicht ohne merkantile Bedeutung. Wer mit der "5" sich als Rentner ausweisen kann, darf ärztliche Mehrleistung pro Quartal beanspruchen und ist damit von der Abrechnung her ein besonders gefragter Patient. Aber auch hier gibt es Einschränkungen: Personen, die zur Wendezeit in der DDR beruflich "staatsnah" waren – beispielsweise Offiziere –, behalten die Statuszahl "1" auch als Rentner. Für sie gilt eine "befristete erweiterte Versorgung", wobei weder "befristet" noch "erweitert" näher erklärt werden. Kassenarztpraxen mit einem derartigen Patientenstamm sind dadurch besonders benachteiligt. In Mitteldeutschland trifft das für die ehemaligen Bezirkshauptstädte und Kreisstädte zu, wie etwa Strausberg.

Jede ärztliche Leistung bekommt eine Abrechnungsziffer, und diese ergibt eine gewisse Punktzahl. Diese Punktzahl wird mit einem Punktwert multipliziert. Dieser Punktwert beträgt für Mitteldeutschland 7,49 und für Berlin und die alte Bundesrepublik 10. Daraus ist mit einem Blick der "gravierende Unterschied" zu erkennen. Obwohl der mitteldeutsche Kassenarzt die gleichen Ausgaben wie sein westdeutscher Kollege hat, betragen seine Einnahmen nur 66 Prozent. In Bundesländern mit einer besonders hohen Arbeitslosigkeit können sich die Kassen mit einer zusätzlichen Einbehaltung von Honorar "eigenfinanzieren", auch wenn dadurch die Finanzlöcher nicht beseitigt werden können. Mecklenburg-Vorpommern bedient sich hierbei mit 15 Prozent des Quartalshonorars. Privatkassen behalten 17 Prozent der Vergütung ein. Derartig bedrängte Kassenarztpraxen müssen Personal entlassen und können nicht investieren, da ihnen die Kreditwürdigkeit fehlt. Im Osten können sich viele Praxen nur noch halten, indem die Ärzte sich selbst und ihrem Personal bei gleicher Leistung lediglich 50 bis 80 Prozent Gehalt der westdeutschen Kollegen bewilligen.

Diese Misere erzeugte die gereizte Stimmung beim Kassenärztetag in Leipzig. Biedenkopfs Sozialminister, als Vertreter der gastgebenden Landesregierung, trat nach zehn Redeminuten unter Buh-Rufen ab. Kohls Parlamentarische Staatssekretärin Bergmann-Pohl trat erst gar nicht ans Podium. Am Ende der Veranstaltung war den Teilnehmern bereits eines klar: Wir kommen wieder!


 
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