© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/98  01. Mai 1998

 
 
Rußland: Staatsduma bestätigt im dritten Anlauf Jelzin-Adlatus Kirijenko als Ministerpräsidenten
Privilegien ersetzen Prinzipien
von Martin Schmidt

Schon vor der eigentlichen Abstimmung am letzten Freitag in der russischen Staatsduma war alles klar. Als die Mehrheit der Parlamentarier sich dafür aussprach, in geheimer Abstimmung über den neuen Ministerpräsidenten zu entscheiden, waren die Würfel zugunsten Kirijenkos gefallen. Der vom kränkelnden "Zar Boris" im dritten Anlauf ins Rennen geschickte 35jährige Ex-Komsomolze und Geschäftsmann konnte nun darauf rechnen, daß Abgeordnete aus den verschiedensten Fraktionen dem "kleineren Übel" den Vorzug geben würden. Denn viel mehr als den politisch unerfahrenen Jungspunt Sergej Kirijenko aus der Nish-nij Nowgoroder Seilschaft des Boris Nemzow fürchteten so manche linksgerichtete Agrarier, national-chauvinistische Liberaldemokraten und auch einige Kommunisten die andernfalls fällige Auflösung der Duma durch den Präsidenten und den bei einer Neuwahl drohenden Verlust der eigenen Privilegien. So votierten schließlich 251 der 450 Dumamitglieder für den braven Apparatschik Kirijenko und nur 25 gegen ihn. Der große Rest gab erst gar keinen Stimmzettel ab, um sich – da die Sache gelaufen schien – nicht Spekulationen auszusetzen, sich um des eigenen Vorteils willen opportunistisch verhalten zu haben bzw. "gekauft" worden zu sein.

Wie groß die Vorteile sind, die ein Abgeordneter der russischen Duma genießen kann, mag ermessen, wer an die streng bewachten Wohnviertel der "Volksvertreter" denkt, in denen – die überwunden geglaubte sowjetische Bonzokratie läßt grüßen – spezielle Lebensmittelgeschäfte ein luxuriöses Warenangebot zu Niedrigstpreisen feilbieten. Von der Bedeutung von Bestechungsgeldern der mit den Parlamentariern vielfach eng verknüpften Profiteure der Nomenklatura-Privatisierung zeugen nicht nur zahlreiche Gerüchte.

Während die Vertreter der Reformpartei "Jabloko" von Grigorij Jawlinski sowie der Großteil der Kommunisten um den bis zum Schluß gegen Kirijenko agitierenden Vorsitzenden Sjuganow das abgekartete Spiel nicht mitmachen wollten und darauf verzichteten, ihr Kreuz zu machen, bewies die einst vom kommunistischen Geheimdienst gegründete "rechtsradikale" Liberaldemokratische Partei erneut, daß sie trotz der berüchtigten Verbalradikalismen ihres Chefs Schirinowskij letztlich bis heute eine verläßliche Gefolgschaft des herrschenden Machtapparats bildet.

Die eigentliche Bedeutung der Kür des neuen Ministerpäsidenten anstelle des am 23. März aus schwer zu interpretierenden Gründen entlassenen Tschernomyrdin liegt in der Möglichkeit eines baldigen Todes Jelzins. In diesem Fall tritt der Regierungschef gemäß Verfassung für drei Monate an seine Stelle und könnte so entscheidende Weichenstellungen für den weiteren Weg der russischen Politik vornehmen.

Nicht wenige führende westliche Politiker mögen nun aufatmen angesichts der Tatsache, daß die neuerliche Erschütterungen verheißenden Neuwahlen vermieden werden konnten. So wird unter Ministerpräsident Kirijenko und dessen nun neu zu bildender Regierungsmannschaft das undurchsichtige Konglomerat von Machtgruppierungen im Umfeld des zunehmend debiler wirkenden Jelzin weiter den Anschein von Stabilität erzeugen. Westliche Milliardenhilfen tun das ihrige, um diesen Zustand einer "Ordnung im Chaos" zu konservieren. Es ist strittig, ob dies vor allem geschieht, weil man – wie in der Öffentlichkeit immer behauptet – mit dem Sturz des Systems Jelzin zugleich einen völligen Zusammenbruch Rußlands befürchtet, oder ob diese Agonie des zentralen Machtapparats nicht insbesondere deshalb erwünscht ist, weil sie Rußland als Großmacht schwächt.

Manche Fachleute vertreten längst die These, daß die heutige Russische Föderation nicht wegen, sondern trotz der verfassungsmäßig quasi-diktatorischen Stellung des Präsidenten (und seines Umfeldes) noch halbwegs funktioniert. Denn abseits der von der Öffentlichkeit genau verfolgten Vorgänge in der Moskauer Zentrale ist in den letzten Jahren das politische Eigengewicht einzelner wirtschaftlich bedeutender Kommunen und Regionen gegenüber der Kremlmacht weiter gewachsen, während andere Gebiete nach wie vor ganz unter der Fuchtel der hauptstädtischen Politik stehen. Schon Solschenizyn hatte in seiner Streitschrift "Rußlands Weg aus der Krise" zu Recht betont: "Unsere Heimat kann nur zu sich selbst finden, wenn sich innerhalb ihrer Regionen – sagen wir – vierzig lebensvolle, lichtspendende, im Lande verstreute städtische Zentren festigen."

Diese unspektakuläre, für Rußland aber ungeheuer wichtige Entwicklung dürfte zusammen mit dem entschieden zu niedrig veranschlagten Gewicht der Schattenwirtschaft der Hauptgrund sein, warum die ökonomische Situation insgesamt sicherlich nicht ganz so düster ist, wie es die staatlichen Statistiken vermuten lassen. Offiziell ist die russische Wirtschaftsleistung allein zwischen 1989 und 1995 um sage und schreibe rund die Hälfte gesunken, und die Summe der Investitionen ist auch heute noch rückläufig. Andererseits kann man aber feststellen, daß der Stromverbrauch gestiegen ist, was einem so starken Schrumpfungsprozeß widerspricht.

Ferner besagen die Statistiken, daß ein Drittel der Bevölkerung unter dem Existenzminimum lebt. Auch wenn diese Quote, die bei Lehrern 75 Prozent, bei den Landarbeitern sogar 80 Prozent und bei den Rentnern einen noch höheren Spitzenwert erreicht, wegen mancher offiziell nicht registrierter "schwarzer" Nebeneinkünfte wohl zu hoch veranschlagt wird, ist die Verarmung dennoch erschreckend.

Die soziale Degradierung breiter Bevölkerungsschichten wird zusammen mit der von sehr vielen Russen als unerträglich empfundenen Kränkung des eigenen Nationalstolzes das System Jelzin eines Tages – vielleicht schon bei der Präsidentenwahl im Jahr 2000 – hinwegfegen. Ob es dann eine kommunistische Renaissance oder eine Regierung unter der Führung eines charismatischen Politikers vom Schlage des Fallschirmjäger-Generals Lebed geben wird, steht heute noch in den Sternen der "Moskauer Nächte" geschrieben.


 
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