© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/98  01. Mai 1998

 
 
Stadtguerilla: Die schwachen theoretischen Grundlagen des Terrorismus
Die Rote Armee aufbauen
von Werner Olles

Die Rote Armee Fraktion (RAF) hat sich knapp 28 Jahre nach ihrer Gründung aufgelöst. Ihre Geschichte wird in den deutschen Medien zwar vielfach rekapituliert, über das geistesgeschichtliche Klima, das an ihrer Wiege stand, ist indes wenig zu lesen. Unübersehbar ist die Vorbildfunktion der südamerikanischen Stadtguerilla und der palästinensischen Fedayin. Von den uruguayischen Tupamaros übernahmen Anfang 1970 einige aus dem Nahen Osten zurückgekehrte ehemalige Berliner "Umherschweifende Haschrebellen" sogar den Namen. Dennoch war dies alles bis dahin noch ein mehr oder weniger lustiges "Räuber- und Gendarm"-Spiel. Am 14. Mai 1970 änderte sich das allerdings schlagartig. Im Lesesaal des Berliner Zentralinstituts für soziale Fragen befreien Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Hans Jürgen Becker, Astrid Proll, Irene Goergens und Ingrid Schubert den wegen gemeingefährlicher Brandstiftung verhafteten Andreas Baader. Bei dieser Aktion wird der Institutsangestellte Georg Linke durch einen Leberstreckschuß schwer verletzt. Die Gruppe taucht in den Untergrund ab.

Am 5. Juni druckt die Berliner Anarcho-Zeitung Agit 883 das Gründungsdokument der Gruppe, die sich jetzt RAF – Rote Armee Fraktion – nennt: "Die Rote Armee aufbauen!" Der Erklärung, warum die Baader-Befreiung notwendig gewesen sei, folgen jene Sätze, die für die Zielsetzung der RAF von großer politischer Bedeutung sind:

"Um die Konflikte auf die Spitze treiben zu können, bauen wir die Rote Armee Fraktion auf. Ohne gleichzeitig die Rote Armee aufzubauen, verkommt jeder Konflikt, jede politische Arbeit … zu Reformismus. Das macht das Volk nur kaputt, das macht nicht kaputt, was das Volk kaputt macht. Ohne die Rote Armee aufzubauen, können die Schweine alles machen, können die Schweine weitermachen: Einsperren, einschüchtern, schießen, herrschen. … die Baader Befreiungsaktion ist keine vereinzelte Aktion, nur die erste ihrer Art in der BRD."

 

Ulrike Meinhof: "Natürlich kann geschossen werden!"

Die gleiche Denkrichtung enthält ein Schreiben, das bei der Deutschen Presseagentur in Berlin einging: "Glauben die Schweine wirklich, wir würden den Genossen Baader zwei oder drei Jahre im Knast sitzen lassen? Glaubte irgendein Schwein wirklich, wir würden von der Entfaltung der Klassenkämpfe, der Reorganisation des Proletariats reden, ohne uns gleichzeitig zu bewaffnen? Glaubten die Schweine, die zuerst geschossen haben, wir würden uns gewaltlos wie Schlachtvieh abknallen lassen … Wer sich nicht wehrt, stirbt …" – Tatsache war jedoch, daß die RAF zuerst geschossen hatte. Aus dem terroristischen Zug gab es nun kein Aussteigen mehr, und Ulrike Meinhof hob dieses in einem Interview mit der französischen Journalistin Michèle Ray hervor: "… Wir sagen natürlich, die Bullen sind Schweine, wir sagen, der Typ in der Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch, und so haben wir uns mit ihm auseinanderzusetzen. Das heißt, wir haben nicht mit ihm zu reden, und es ist falsch, überhaupt mit diesen Leuten zu reden, und natürlich kann geschossen werden!"

Nach dreimonatigem Intermezzo in Trainingslagern der palästinensischen Befreiungsorganisation PFLP in Jordanien kehrte die Gruppe im August 1970 nach Berlin zurück. Bei drei Banküberfällen werden über 200.000 Mark erbeutet. Nach der Verhaftung Horst Mahlers, neben Ulrike Meinhof der eigentliche Kopf der RAF, übernimmt Andreas Baader nun die Führung. Der von Anfang an sehr dünne theoretisch-ideologische Bodensatz wird nun immer dünner. Gegen den "Praktiker" Baader kann selbst die Meinhof die Fahne der Ideologie kaum noch hochhalten. Trotzdem erscheint im April 1971 "RAF: Das Konzept Stadtguerilla". Es ist eng angelehnt an Carlos Marighellas "Minihandbuch des Stadtguerillas", aber auch an Maximen über den revolutionären Krieg von Mao Tse-tung.Und in der Tarnschrift "Die neue Straßenverkehrsordnung" – Verfasser war Untersuchungshäftling Horst Mahler – liest man im Juni 1971: "Falsch wäre es, das Mittel des bewaffneten Kampfes erst einzusetzen, wenn die Zustimmung der Massen sicher ist, denn das hieße, auf den Kampf gänzlich zu verzichten, weil diese Zustimmung der Massen allein durch den Kampf erreicht werden kann. … Die Partisaneneinheit entsteht aus dem Nichts. Jeder kann anfangen…"

Nach diesen "Schwertwörtern" folgte ein makabres und blutiges Drama mit Pistolen und Bomben, das seinen vorläufigen Endpunkt in Frankfurt am Main, dem neuen Hauptquartier der RAF, hatte. Damit begann die zweite Phase des Untergrundkrieges. Bomben explodierten in Frankfurt, Heidelberg, München, Hamburg und Karlsruhe in Hauptquartieren der US-Armee, dem Bundesgerichtshof und bei Springer. Da in dem Hamburger Verlagshaus auch Arbeiter unter den Verletzten sind, werden die linken Plädoyers an die RAF, doch endlich aufzuhören, stärker. Doch die RAF denkt nicht an Aufgabe.

Am 1. Juni 1972 gelingt der Polizei in Frankfurt am Main der große Schlag gegen die Gruppe. Holger Meins, Jan Carl Raspe und Andreas Baader werden nach heftiger Gegenwehr festgenommen, eine Woche später wird Gudrun Ensslin in Hamburg in einer Boutique überwältigt und kurz darauf in Hannover-Langenhagen die untergetauchte Ulrike Meinhof. Zwei Wochen zuvor erklang bei einem Teach-in der Roten Hilfe im legendären Hörsaal VI der Frankfurter Universität noch ihre Stimme vom Tonband: "Fangt an, Widerstand zu leisten. Die RAF ist nicht auf der Flucht, sie ist nicht gespalten, sie ist nicht isoliert, sie kämpft, und sie wird siegen!"

Der folgende Stammheimer Prozeß gegen die Mitglieder der RAF machte Schlagzeilen in ganz Deutschland. Nach den Morden an Generalbundesanwalt Buback und seinen Begleitern und am Bankier Jürgen Ponto sollte das Jahr 1977 die schwerste innere Herausforderung für die Bundesrepublik bringen. Am 5. September entführte ein Kommando Siegfried Hausner der RAF den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer. Elf RAF-Mitglieder, unter ihnen die Haupttäter Baader, Raspe und Ensslin sollten freigepreßt werden. Doch der Staat blieb hart. Fünf Wochen später entführten vier palästinensische Terroristen die Landshut, eine Boeing 737 der Lufthansa, auf dem Flug von Mallorca nach Frankfurt am Main. Am 17. Oktober, kurz vor Mitternacht, dringt eine Spezialeinheit der GSG-9 in die Maschine ein und überwältigt das Kommando "Martyr Halimeh". Am Morgen des 18. Oktober finden die Wärter in Stammheim die Leichen von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Carl Raspe. Drei Wochen später folgt Ingrid Schubert in München ihrem Beispiel, Irmgard Möller überlebt ihre sich selbst beigebrachten Stichverletzungen.

 

Der "deutsche Herbst" bildet das blutige Finale

Der Mord an Hanns Martin Schleyer und die Stammheimer Selbstmorde der inhaftierten RAF-Kader bildeten im "deutschen Herbst" 1977 das blutige Finale der ersten Generation der deutschen Stadtguerilla. Ihre Nachfolger, die zumeist aus sogenannten "Folterkomitees" und "antifaschistischen Gruppen" rekrutiert wurden, hielten sich bei ihren Terroranschlägen mit theoretischen Begründungen gar nicht mehr auf. Der frühere Rechtsanwalt Siegfried Haag nennt ihre Flugblätter "einen so ausgehungerten Kram, daß die Texte das Gezwungene, Freudlose ihrer Verfasser abbilden, als ob sie sich gleichsam unter Litaneien einen staubigen Weg entlangschleppen müßten." Horst Mahler schrieb an den Schriftsteller Günther Anders, der noch 1987 öffentlich dazu aufgerufen hatte, die der Atomlobby zuzurechnenden Menschen wahllos zu töten, daß er "inmitten einer Mörderbande seine letzten Hoffnungen verlieren und in der Stunde seines Todes die Menschheit verfluchen" würde, die er doch retten wolle.


 
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