© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/98  01. Mai 1998

 
 
Kolumne
Willenlos
Von Klaus Motschmann

Große gesellschaftliche und politische Umbrüche müssen sich nicht unbedingt mit Gewalt vollziehen, sei es durch einen Krieg oder durch eine Revolution. Gewalt ist beziehungsweise war immer nur die letzte Möglichkeit, "eigenen Willen gegen fremden Willen mit Erfolg durchzusetzen", weshalb auf den preußischen Kanonen ultima ratio eingeprägt war. Als Ziel politischer Auseinandersetzungen galt und gilt heute mehr denn je, den Gegner "friedlich" zu überwinden, indem man seine Widerstandskraft allmählich lähmt. In diesem Sinne hat der berühmte Militärtheoretiker Carl von Clausewitz in seinem Hauptwerk "Vom Kriege" (1826) – das, nebenbei bemerkt, von Lenin aufmerksam und zustimmend gelesen wurde – an eine sehr einfache Grundregel erinnert: "Die Widerstandskraft drückt sich durch ein Produkt aus, dessen Faktoren sich nicht trennen lassen, nämlich: die Größe der vorhandenen Mittel und die Stärke der Willenskraft." Es fehlt nicht an geschichtlichen Erfahrungen, daß die Bereitstellung von noch so vielen "Mitteln" für zivile oder militärische Zwecke nicht ausreicht, um eine bestehende Ordnung aufzubauen oder auf Dauer zu verteidigen, wenn der Wille der Menschen dazu fehlt. "Null-Bock"-Mentalität hat den gleichen Effekt wie wilde Aggression, eben nur auf andere Weise: einmal als "Explosion", das andere Mal als "Implosion".

Wenn sich die "Stärke der Willenskraft" gegen Null bewegt, dann nutzen alle bereitgestellten Mittel nichts. Um im Beispiel Clausewitz’ zu bleiben: 10.000 Kanonen sind wertlos, wenn kein Wille vorhanden ist, sie zu bedienen. 10.000 mal Null ergibt als Ergebnis Null.

Entsprechendes gilt für den zivilen Bereich. An bestimmten Punkten der Entwicklung beginnen in allen politischen und gesellschaftlichen Systemen zunächst Zweifel an der Legitimation einzelner Entscheidungen, die sich dann, wenn sie nicht überzeugend widerlegt werden können, zu einer allgemeinen Vertrauens- und Legitimitätskrise auswachsen. Sie beginnt in der Regel bei der politischen Klasse, die die Widersprüche aufgrund ihrer Stellung sehr viel früher wahrnimmt, überträgt sich dann auf die instinktsichere Masse – auch ohne die Massenmedien, wie die Erfahrungen der jüngsten Zeit lehren. Dabei sollten wir nicht allein an die Implosion des Ostblocks denken, die DDR eingeschlossen, sondern auch an die Implosion des Parteiensystems in Italien nach den Wahlen von 1994. Dort sind völlig neue politische Gruppierungen entstanden, zwischen denen die "ewige Regierungspartei" Democrazia Cristiana mit inzwischen zehn Prozent eine unbedeutende Rolle spielt. Ein deutliches Menetekel! Wird es bei uns verstanden?


 
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