© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/98  08. Mai 1998

 
 
Polemik: Der DVU-Wahlsieg bringt die Verhältnisse in Deutschland zum Tanzen
Stoppzeichen für die Etablierten
von Ulrich Schacht/Heimo Schwilk

Lange Zeit konnten große Teile des politischen Establishments in Deutschland, namentlich Sozialdemokratie und Grüne, händereibend mit dem wachsenden Heer der Nichtwähler rechnen. Denn mit dem Zuwachs der Wahlverweigerer ging ein Schwund des bürgerlichen Lagers einher. Seit der Landtagswahl von Sachsen-Anhalt aber vergeht dem rot-grün bewamsten Rumpelstilzchen die klammheimliche Schadenfreude. Denn nun feixen im deutschen Wald ganz andere Visagen. Freylich handelt es sich bei den über Nacht aufgetauchten Figuren um Gespenster mit einer merkwürdigen Doppelnatur: sie sind zugleich vollkommen substanzlos und hochexplosiv. In nützlicher Weise machen sie das Potential an wilder Entschlossenheit sichtbar, das hinter den Fassaden des kleinbürgerlichen Demokratiedefätismus schlummert: Eine Hohlladung, die ihre maximale Explosivkraft aus der völligen Entleerung aller Politbindungen und Wertorientierungen bezieht.

Die Wähler der DVU, überwiegend jüngere Menschen mit labilen Beschäftigungsperspektiven und durch die Sozialphrasen des DDR-Kommunismus und BRD-Konsumismus radikal desillusioniert, setzten den Wahlhebel an, um das in ihren Augen vollkommen verlogene West-System auf legale Weise auszuhebeln. Doch irrt sich, wer ihre Wut als unpolitisches Ereignis zu disqualifizieren versucht. Die Wandlung vom Nicht- und Erstwähler zum Protestwähler, wie sie in Sachsen-Anhalt über 100.000 mal stattgefunden hat, ist zum einen ein elementarer politischer Vorgang und zum anderen eine Menetekel für die bevorstehenden Wahlen in ganz Deutschland. Denn dieser Prozeß könnte sich als Initialzündung erweisen, wie man die erstarrten Verhältnisse in Deutschland zum Tanzen bringen kann. Daß der Tanzmeister ausgerechnet DVU heißt, gehört zu den brutalen Ironien einer bundesdeutschen Polit-Kirmes, die sich das reformunfähige Polit-Establishment seit 1968, besonders aber nach 1982 selbst ausgerichtet hat.

Logisch deshalb, daß diejenigen, die der Magdeburger Rechts-Tango das Gruseln lehrt, in einem ersten Verzweiflungsakt die DVU-Wähler zu unpolitischen Vollidioten erklären. Tatsächlich aber ist das größte unpolitische Phänomen in Deutschland das Wieder- und Wiederwählen von Parteien, die der Wähler in seiner Mehrheit inzwischen offen verachtet. So gesehen haben die Jungwähler zwischen Haldensleben und Halle, Aschersleben und Wittenberg, ganz objektiv, einen Schnellkurs in politischem Realitätsbewußtsein und demokratischer Handlungsfähigkeit bewiesen. Schattenmann Frey und sein Parteischatten Deutsche Volksunion werden dadurch natürlich nicht geadelt, sie sind allein als Katalysator von Bedeutung. Der Schock des düpierten Einheits-Parteien-Blocks aus CDU, SPD, FDP und Bündnisgrünen, die sich in gewohnt rhetorischer Manier am Wahlabend die Schuld am Desaster gegenseitig in die ausgelatschten Schuhe schoben, bezog sich aus all diesen Gründen auch nur auf die zu Tage getretene Handlungsfähigkeit eines Teils der Wähler, der dem eigenen Manipulationsangebot schlicht ausgewichen war.

Worin aber bestand dieses Angebot bis zum Wahltag? In einer von der vorgestrigen PDS ausgehaltenen Höppner-SPD mit einem fromm-reaktionären, investitionsfeindlichen Grünen-Appendix sowie einer christdemokratischen Landesvariante, die sich vor allem in weinerlichen Rührstücken verschliß. Ihr propagandistisches Mit- und Gegeneinander erzeugte – statt konstruktiver Arbeit – einen Politkauderwelsch, der dazu geführt hat, daß Sachsen-Anhalt mit 22,6 Prozent Arbeitslosigkeit und 20 Milliarden Mark Schulden zum Schlußlicht aller deutschen Bundesländer wurde. Die rote Laterne am Portal der Magdeburger Staatskanzlei ist nun zum Stoppzeichen für die Etablierten geworden, wenn sie noch einmal ihr traditionelles Ampel-Schema nervös aufflackern lassen.

In den hingeworfenen Propaganda-Brocken der Frey-Partei jedoch haben die Protestwähler Konturen einer alternativen Politik erkannt, in der es um ihre eigenen Interessen zu gehen scheint: Arbeitsplätze, Asylantenproblematik, innere Sicherheit, Euro und EU-Transfer. Zu all diesen existentiellen Fragen der Deutschen hat die Mehrzahl der deutschen Politiker seit Jahren aber nur noch Heuchelei und Wortschaum produziert. Ausnahmen wie Sachsens Ministerpräsident Kurt Biedenkopf und Bayerns Regierungschef Edmund Stoiber bestätigen nur die traurige Regel.

Zu dieser traurigen Regel, die Interessen der Deutschen zu ignorieren, gehört zugleich die Unverfrorenheit. alles legitime Verlangen danach als rechtsextremistisch zu stigmatisieren. Exakt hier, im pathologischen Verfallskern aller deutschen Gegenwartspolitik, wuchert parasitär die Frey-Partei. Sie eröffnet mit demagogischen Kurzformeln und finanzstarken Materialschlachten Ausblick auf ein Politgelände, in dem künftig nicht nur die genannten Tabus fallen könnten. Das würde die Schuld der Etablierten potenzieren.

Den heuristischen Wert dieses Vorgangs, der sich möglicherweise bald in anderen Bundesländern wiederholen und auf nationaler Ebene steigern könnte, hat das bayerische Polit-Talent und Frühwarnsystem Edmund Stoiber dieser Tage auf einen überraschenden, aber zutreffenden Begriff gebracht: "Wenn man die demokratische Rechte heimatlos läßt, überläßt man sie der radikalen Rechten."

Von daher läge es nahe, wenn Stoiber sich endlich zur Verwirklichung des alten Strauß-Traumes durchringen könnte, die CSU zu einer bundesweiten Partei zu machen. Im mächtigen Schatten eines solchen Projektes würden der Schattenmann Frey und seine Bundesgenossen genauso schnell verschwinden, wie sie aufgetaucht sind. Zumal in den neuen Bundesländern, wo die organisatorischen Reste der einstmal kraftvollen DSU auf solche Signale nur warten.

Es steht aber zu befürchten, daß die nationalmasochistische Egomanie des Systems Kohl, zu dem von Lafontaine über Kinkel bis zu Fischer und Trittin inzwischen alle gehören, das Projekt einer demokratischen Rechten weiterhin verteufeln und blockieren wird, um schließlich durch den Flucht-Tunnel Europa das Weite zu suchen. Das aber bedeutet nur eins: Falls das deutsche Bürgertum in einer historischen Krisensituation, wie sie sich jetzt am Horizont abzuzeichnen beginnt, erneut lediglich die Kraft zur Feigheit, nicht aber zur Umkehr aufbringt, wird das deutsche Kleinbürgertum mit seiner ungebrochenen Sehnsucht nach Ordnung um jeden Preis ein weiteres Mal zum Zuge kommen. Was dies für Deutschland bedeutet, ist seit 1945 bekannt.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen