© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/98  08. Mai 1998

 
 
Die sexuelle Revolution und ihre Folgen
von Götz Eberbach

Am Anfang der sexuellen Revolution von 1968 hatte ein "Studentenführer" in einer durchaus bürgerlichen Zeitung erklärt, die "Befreiung der Sexualität" sei nötig, um zu verhindern, daß Jugendliche ihre ersten Erfahrungen im Rahmen der "bürgerlichen" Prostitution machten. Denn die Prostitution, so die Theoretiker der Studentenrevolte, sei Ausdruck der kapitalistischer Produktionsverhältnisse. Das Bedürfnis danach wiederum sei Ausdruck repressiver gesellschaftlicher Verhältnisse, die wiederum typisch seien für autoritäre, im Extremfall faschistische Lebensanschauungen. Sexuelle Freizügigkeit, das ist seit Wilhelm Reich, Erich Fromm und Theodor W. Adorno ("The Authoritarian Character") Allgemeingut, sei ein Indikator für die innere Distanz von faschistoiden, hierarchisch-traditionalen Lebensanschauungen.

Was die 68er Revolution innerhalb kürzester Zeit auf diesem Gebiet bewirkt hat, wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, wie schnell und grundlegend sich gegen Ende der 60er Jahre langandauernde Vorstellungen und Verhaltendsweisen Jugendlicher der Sexualität gegenüber verändert haben. Sicher: Vor der sexuellen Revolution gab es auch keine heile Welt; die gab es nie. Aber ob die Menschen inzwischen glücklicher geworden sind, muß doch bezweifelt werden.

Ist überhaupt etwas von dem, was die Alt-68er mit ihrer sexuellen Revolution bezweckt haben, heute so eingetroffen? Es wäre an der Zeit, dies nachzuprüfen. Beispiel Prostitution: Trotz sexueller Freizügigkeit und leichtem Zugang zum Sex, hat aber die Prostitution seit 1968 keineswegs abgenommen, wie ursprünglich von den Gesellschaftsveränderern prognostiziert worden war, sondern sie hat zugenommen. Inzwischen versuchen dieselben Leute, die zu 68er Zeiten die Prostitution als Ausbeutung bezeichneten, den Beruf der Prostituierten als "ganz normalen Beruf" zu definieren. RTL, SAT1, Pro7, Vox und andere Sender "informieren" über "Domina Domenica" oder das "Hurenprojekt Hydra". Ein "offener Umgang" der Männer mit der Prostitution gilt plötzlich als Distanzierung von "verklemmten" und "verlogenen" Verhaltensweisen.

Da Sex nicht mehr als Ausdruck der Liebe verstanden wird, sondern nur Triebbefriedigung und gleichsam Leistungssport ist, wird der normale Sex mit der Zeit langweilig, immer andere "Abwechslungen", immer stärkere äußere Reize müssen her. Keine Talk-show, auf der nicht inzwischen die abwegigsten Sexualpraktiken lang und breit diskutiert werden und das zu Zeiten, in denen auch Jugendliche heute fernzusehen pflegen. Kinder und Jugendliche werden durch sexualisierte Fernsehserien, die auf Jugendliche abgestellt sind und die über den Sex das jugendliche Konsumverhalten beeinflussen und lenken sollen, zunehmend in ihrem Alltagsverhalten bestimmt.

Erste sexuelle Erfahrungen werden immer früher gemacht. Pubertierende Jugendliche werden auch durch Fernsehserien unterschwellig unter Konformitätsdruck gesetzt, sexuelle Erfahrungen immer früher zu machen. Die Lehrerin einer Hauptschulklasse im Ruhrgebiet berichtet, daß ein Drittel ihrer Klasse (höchstens Klasse 9, also 14 bis 16jährige) einen festen Freund hätten, mit dem sie natürlich auch Verkehr haben, ein zweites Drittel habe häufig wechselnde Freunde oder mehrere Freunde gleichzeitig, und das letzte Drittel gehe auf den Strich. Das ist sicher nicht die Regel – auf dem Land ist das anders, auch in anderen Gebieten Deutschlands – aber ein 15 bis 16jähriges Mädchen, das mit dem Freund auf Urlaub geht, ist heute eigentlich nichts besonderes mehr. In einer Talkshow war kürzlich zu hören, daß man eigentlich keinem Mädchen die Erlaubnis zum Heiraten geben dürfe, wenn sie nicht vorher mit 10 bis 15 Männern geschlafen habe. Alle Teilnehmer nahmen das ernst, keiner traute sich, vor der Kamera zu widersprechen.

Ein Anwalt verteidigte einen Sexualstraftäter mit dem Hinweis, dieser habe "erst" mit 18 zum ersten Mal Geschlechtsverkehr gehabt. Wie sehr hier auch schon gesellschaftliche Zwänge und Konformitätsdruck eine Rolle spielen, zeigt das Beispiel eines 15jährigen Schülers aus einem pietistisch-frommen Elternhaus, dem von seinen Mitschülern das Leben schwergemacht wurde, weil man ihn für homosexuell hielt. Der Grund: Er hatte noch keine feste Freundin.

"Selbstbestimmte Sexualität" – auch für Kinder und Heranwachsende, das war ein Grundkonzept der sexuellen Revolution. So haben die Grünen noch in den 80er Jahren "Stadtindianerprojekte" auf ihren Parteitagen zu Wort kommen lassen, die sich für eine "selbstbestimmte" Sexualität von Kindern einsetzte, was nichts anderes bedeutete, als daß Erwachsene Sex mit Kindern haben konnten, wenn sie vorgaben, dies sei von den Kindern gewollt und diene der sexuellen Selbstverwirklichung. Ein Kapitel ihrer Geschichte, auf das die Grünen heute nicht mehr gerne angesprochen werden wollen.

Durch die ständige mediale Berieselung mit einer Mischung aus Sex und Gewalt ist auch eine steigende Spirale der Gewalt bei immer jüngeren Jugendlichen zu beobachten. Für Vergewaltigungen, so die Propheten der sexuellen Revolution, seien verklemmter Umgang mit der Sexualität und die bürgerlich-monogame Ehe hauptursächlich. Ist die Zahl der Vergewaltigungen, wie versprochen, zurückgegangen? Nein, sie nimmt weiter zu.

Schließlich hat die ideologische "Befreiung der Sexualität" und der Wunsch nach sexueller Selbstbestimmung vor allem eine Trennung von Sexualität und Kinderwunsch bewirkt. Dies hatte nicht nur etwas mit der Erfindung der "Pille" zu tun. Die Folgen für die Zukunft sind unabsehbar. Was wird in zwanzig, dreißig Jahren sein, wenn die zahlreichen "Singles" ins Rentenalter kommen? Für ihre Rente werden dann die erwachsenen fremden Kinder aufzukommen haben, die Kinder, die die Singles selbst nicht gewollt haben. Kinder werden für sie im Alter nicht sorgen. Sie werden nicht in der vertrauten Umgebung alt werden können. Altersheime werden verstärkt gebaut und bezuschußt werden. Sie werden im Alter womöglich auf das verzichten müssen, was diesen Lebensabschnitt erfüllt und schön macht. Sie werden isoliert sein, ohne die Freude an Kindern und Enkeln. "Der Junggeselle lebt wie ein König – und er stirbt wie ein Hund!" So hieß es früher. Und dieses Diktum könnte bald wieder aktuell werden.

In Zukunft werden die wenigen Kinder genug damit zu tun haben, ihre eigenen Eltern zu versorgen, sie werden sich nicht noch um die Leute kümmern können, die ihnen leztlich doch nur große finanzielle Lasten aufgebürdet haben, weil sie ein schönes, bequemes Leben möglichst ohne Verantwortung für die Zukunft führen wollten. Schon gar nicht werden sie ihnen die nötige emotionale Zuwendung geben. Oder glaubt man etwa, man könne dem Problem durch "Import", durch Einwanderung, möglichst multikulturell, Herr werden? Heiner Geißler scheint dies zu glauben. Aber meint er wirklich, daß Ayse aus der Türkei oder Hamed aus Marokko sich aus lauter Freundlichkeit um Herrn Meier oder die kinderlose geschiedene Frau Schulze kümmern werden, sie betreuen und ihnen das Gefühl der Geborgenheit geben wollen? Warum sollten sie denn?

Die Familie, so haben es die 68er verbreitet, sei eine bürgerliche Institution zur Unterdrückung individueller Bedürfnisse. Selbstbefreiung sei nur möglich durch Auflösung dieser repressiven Institution. Werden sich die Protagonisten dieser Idee daran erinnern, wenn sie alt werden?

Die Verfechter der "vaterlosen Gesellschaft" haben planmäßig versucht, das Element der Autorität als "repressiv" zu eliminieren und die Familie selbst durch einen losen Zweckzusammenhang autonomer Individuen zu ersetzen. Permanent wird versucht, in die Familie hininzuregieren, langsam das Recht der elterlichen Obhut zurückzudrängen und durch staatspädagogischen Einfluß zu ersetzen. Ein Gesetz gegen physische und psychische (!) Gewalt in der Familie wird diskutiert. Einerseits wird die Strafmündigkeit zwar im wesentlichen bei 21 Jahren belassen, die Volljährigkeit auf 18 herabgesetzt; das Wahlalter will man hingegen auf 16, ja auf 14 herabsetzen. Sind die Jugendlichen reifer und vernünftiger geworden? Es wird wohl eher ein gehöriges Stück Anbiederei im Spiel sein und die Hoffnung, die dem reaktionären Einfluß der Familien entzogenen Jugendlichen könnten umso leichter Knetmasse der Baumeister des "neuen Menschen" sein.

Natürlich werden sich die Utopien weder der sexuellen Revolution noch des Marxismus jeder Schattierung je verwirklichen lassen, weil sie von einem falschen Menschenbild ausgehen und im Grunde genommen nichts sind, als die Phantasien unreif gebliebener psychisch und moralisch gescheiterter Existenzen, die sich gegen jegliche Erfahrung und Menschenkenntnis systematisch abgeschottet haben. Immerhin aber ist es diesen Existenzen gelungen, aufgrund der Verführbarkeit des Menschen unendlich viel Unglück anzurichten. Tatsächlich spiegelt ihr Tun die alte Verlockung der Schlange gegenüber Adam und Eva im Paradies wider: "Ihr werdet sein wie Gott und wissen (das heißt selbst bestimmen), was Gut und Böse ist."

Die traditionelle Welt, der die Propheten der sexuellen Revolution den Kampf angesagt hatten, war sicher alles andere als ideal. Die Künder einer neuen Welt und eines neuen Menschen haben den Himmel auf Erden versprochen: Befreiung, Selbstverwirklichung, Genuß ohne Reue. Doch dieser Himmel ist für allzuviele Menschen zu einer Hölle der Sucht, der Sinnleere, der Langeweile und schließlich der Einsamkeit und Verzweiflung geworden.


 
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