© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/98  08. Mai 1998

 
 
Protest: Gedanken zu politischen Tendenzen der Jugend im Osten
Die Stimmung hat gewählt
von Peter Krause

Warum wählte ein Drittel der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Sachsen-Anhalt "rechts"? Woher der starke Zulauf bei der NPD-Jugend in Sachsen? Wegen der hohen Arbeitslosigkeit? Sicher, denn diese ist mehr als ein vorübergehendes Phänomen: Sie bedeutet Perspektivlosigkeit. Und die "autoritäre DDR-Sozialisation", welche Rolle spielt sie?

Ist die Antwort einfach? Warum konnte die Frey-Partei bei den Altersgruppen, die in der DDR nachhaltig "sozialisiert" worden sind, bei den über 30jährigen, nur geringen Erfolg erzielen? Die Stereotypen westdeutscher Soziologie erfassen die Sache nur ungenügend. Das Leben in der späten DDR war unverkrampft. Westliche Jugendkultur wurde adaptiert, mit Eigenem vermischt. Die Szenen in den verfallenden Städten dachten frischer, kreativer und zugleich substanzieller als die müde Schickeria im Westen. Die DDR der 80er Jahre bot mehr innere Freiräume, als es das Schlagwort "Unrechtsstaat" fassen will. Gefahr drohte erst, wenn der Kreis des Subversiven betreten wurde; die Grauzone jedoch war in der letzten Honecker-Zeit weit gezogen.

Wer aus der Melancholie der DDR-Wende in den Westen kam, trat aus dem Grau der Städte in ein Grau des Diskurses, aus der Enge des Raumes in das Biedere des Kulturellen, aus einem autoritären Staat in eine subtil-autoritäre Gesellschaft und aus einer desolaten Volkswirtschaft in eine Prosperität mit ihren eingespielten Abhängigkeiten. Man erfuhr die Kritiklosigkeit einer satten "kritischen Theorie", die Dogmatik der Emanzipationsgläubigkeit.

Ausbruch aus kollektiven Verhaltensschemata

Gegen den Ausbruch der offiziösen Individualität 1989 – der aus der Aufmüpfigkeit der Massen, der Arbeiterjugend besonders, entstanden war – erscheint das heutige Deutschland als Kultur der Gleichförmigkeit: schillernd, bunt, aber unendlich belanglos. Der postmoderne Individualismus ist oberflächlich, manchmal sogar prüde, auf einer schmalen Anthropologie basierend.

Die Ost-Jugend von heute ringt auf ihre Weise erneut um Eigenständigkeit, bricht aus kollektiven Denk- und Verhaltensschemata aus. Wider die arrogante Macht der Halbgebildeten setzt sie die Revolte der neuen deutschen Ungebildeten, gegen das Lähmende wählt sie das Dumpfe. Tatsächlich ist die Sachsen-Anhalt-Wahl mit den Mustern rheinischer Politik nicht zu begreifen. Die selbstgefällige Ausrede vom Erbe einer "totalitären" DDR ist dünn.

Die DVU ist eine der unappetitlichsten Gaben, die uns die politische Entwicklung der jüngsten Jahre beschert hat. Daß dieses destruktive Gebilde, hinter dem obskure Motivationen stehen, die Demokratie in Bedrängnis bringen könnte, glauben nur wenige. Dafür ist sie zu unpolitisch. Vielleicht aber liegt gerade darin ein Grund ihres Erfolges. Ein großer Teil der Jugend hat Protest gewählt, "rechten" Protest. Und doch war es eine Wahl, ein staatspolitischer Akt, eine Willensbekundung des "mündigen Bürgers". Junge Deutsche haben ihre Subkulturen verlassen, haben abgestimmt. Auch wenn einem das Ergebnis nicht gefällt, sie sind aus der anonymen Resignation herausgetreten, damit einen souveränen Schritt weiter als diejenigen, die ihre Hilflosigkeit in Straßenkrawallen ausleben.

Die Wahl der extremen Rechten ein staatsbürgerlicher Akt? Fatal, daß ein politischer Herrschaftsakt bedenklicher ist als der Radau, als die Unauffälligkeit des Nichtwählens. Das Wort Protest ist keine Platitüde, sondern birgt Gefahren. Abgewählt wurde nicht eine bestimmte Politik, sondern Politik überhaupt: Denn die Politik hat in den Augen vieler Jugendlicher versagt. Sie sorgt weder für Arbeit noch bietet sie Orientierung. Eine auf Konsens ausgerichtete parlamentarische Demokratie wird als handlungsunfähige und ferne Bürokratie empfunden. Und wer ist Signum größerer Hoffnungs- und Bildungslosigkeit als die DVU?

Der DAX steigt, und das Politische zeigt sich als Mythos. Es gibt einen jugendlichen Instinkt für Schwächen einer Gesellschaft. Der Glaube aber, ein Staat als Organisation der Bürger sei verantwortlich für das Gemeinwohl der zu einer politischen Einheit verbundenen Menschen, ist im Osten noch stark. Das soziale Empfinden, die Skepsis gegenüber reiner Marktwirtschaft ist tief verwurzelt. Eine soziale Entmischung, die sich bloß finanziell reguliert, wird nicht widerstandslos akzeptiert. Man hält sich an gewachsene soziale Bindungen. Darin vielleicht besteht die Kluft der beiden deutschen politischen Kulturen: in ihrer Auffassung von staatlicher Gemeinschaft denkt und fühlt der Osten weniger liberal.

Der preußisch-deutsche Obrigkeitsstaat war immer auch ein Wohlfahrtsstaat. Die traditionelle, vielleicht "altertümliche" Auffassung vom Begriff der res publica als einer res populi äußert sich in den neuen Bundesländern auffällig in einem Identitätsbegriff, der vom Westen mit Heftigkeit ausgetrieben werden soll: Nation. Es gibt zwischen Greifswald und Suhl eine Nähe zwischen sozialem und nationalem Gleichheitsdenken. An diese Gleichheit ist leichter zu appellieren, weil jene schlicht erwartet wird. Es existiert insofern eine starke sozial-nationale Grundstimmung, nicht nur in Teilen der Jugend, sondern auch unter den Älteren, und sie ist auch in Ost-CDU, Ost-SPD und PDS – mehr oder weniger latent – vorhanden.

Der politische Regionalismus wird anwachsen, eine Partei, bodenständig wie die CSU, wahrscheinlicher werden. Die CDU hat bisher von dieser Stimmung viel vereinnahmen, Anhänger besonders aus proletarischen Schichten für sich gewinnen können. Aber sie hat – von Sachsen abgesehen, wo sie sich sehr eigenständig gibt – die Chance des Konservativ-Sozialen und Nationalen verspielt. Sie hat sich zunehmend bürgerlich und wirtschaftsliberal, kurz: westlich präsentiert. Die Wähler im Osten mögen das nicht, erwarten, daß Entscheidungen nicht auf eine Weise getroffen werden, die im Effekt an DDR-Wahlen erinnern: Man wählt, aber alles bleibt, wie es ist; Wichtiges wird von Gremien und Kommissionen entschieden.

Die Grundorientierung auf Gemeinschaft, auf Staat und Nation wirkt bei den Kindern von 1989 nach. Also doch "DDR-Sozialisation"? "Wende", das hieß Bruch. Es ging nicht so bieder zu wie bei der langsamen Liberalisierung, die im Westen Deutschlands von Linken und Wirtschaft gemeinsam betrieben worden ist. 1990 begann für die Menschen in der DDR ein Leben in abstrakten politischen Thesen und kapitalistischer Wirklichkeit. Eine intellektuell morbide Linke, eine ausgezehrte Mitte, eine zerstrittene, konzeptlose und feiste Rechte, ein abwesender Konservatismus: und all das zutiefst bürgerlich, hilflos.

Da ist also das in wenigen Jahren gewachsene Ressentiment gegen den Westen zu beachten, gegen seine versnobte Marktgläubigkeit, gegen die Yuppisierung einer ganzen Gesellschaft. Was dort als Freiheit firmiert, wird im Osten empfunden als die Freiheit "abzuzocken", das Land zur Immobilie und zum Absatzmarkt sowie die Menschen zu Konsumenten zu degradieren.

Votiert wurde gegen das Bürgerliche, das Politische

Die Jugend, anstößig auftretend, trifft das politische Establishment in seiner peinlichsten Flanke, indem sie das letzte Abfallprodukt seiner dekadenten Bildung und zivilisatorischen Gesten wählt. Was bot sich am ehesten an, um das politische Tabu zu brechen, das wohlgeordnete Parteiensystem zu ärgern, als für eine extrem-unpolitische und am meisten verfemte "Partei", für das Blöde und ästhetisch Unzumutbare zu votieren? Jugendliche Stimmung, nicht die Ratio hat gewählt. Votiert wurde gegen die Bürgerlichkeit, gegen die Anpassung, gegen die Entidealisierung. Wider die abstrakten, quasi zum politischen Ding an sich erklärten Werte des Westens wurde ein Phantom gestärkt.

Ein Wahlkampfthema kann das verdeutlichen: Die Ausländer-Raus!-Partei wurde angekreuzt, obwohl es im Osten wenig Ausländer gibt. Nun muß man nicht in Berlin-Kreuzberg wohnen, um das Phänomen und seine gesamtgesellschaftlichen Folgen zu bewerten. Aber um die Realität allein ging es eben nicht. Gewählt wurde die DVU auch deshalb, weil Ausländerfeindlichkeit von den Etablierten am meisten geächtet wird, weil man auf diese Weise auf das größte Aufsehen, auf die tiefste "Bestürzung" hoffen durfte. Strukturell trifft sich das mit dem Protest der Linken in den späten 60er und den 70er Jahren, der ebenfalls um rein symbolische Akte bemüht war. Ziel ist der Protest schlechthin, der fundamentale Protest. Politik soll zunächst – wie einst bei den Grünen – vor allem verhindert werden.

Den jungen Wählern mangelnde Intelligenz zu unterstellen, ist eine leichtfertige Erklärung. Der Chef der Magdeburger Landeszentrale für politische Bildung, Bernd Lüdgemeier, wies dagegen darauf hin, daß "rechte Positionen" immer stärker auch von Abiturienten vertreten werden. Der Protest kommt keineswegs vom Rand der Gesellschaft, sondern aus der jungen Mitte. (Was überhaupt soll in Gebieten mit 30 und mehr Prozent Arbeitslosigkeit – von Sozialhilfeempfängern, Frührentnern ganz zu schweigen – die Rede vom "Rand"?)

Die idealistische deutsche Pflichtethik hat die Frage nach der Freiheit immer als Freiheit wozu begriffen. Nun hat man der Jugend intensiv eingeredet, es gehe um Freiheit wovon. Sie hat sich in großen Teilen für die Freiheit von Politik entschieden.


 
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