© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/98 15. Mai 1998

 
 
Schlager als Spiegelbild der Zeit: Was uns Freddy Quinn und Nicki eigentlich sagen wollten
"Der Platz an der Sonne!"
von Claus M. Wolfschlag

Gebannt starrte ein ganzes Land auf die Mattscheiben. "Germany, 12 points." Jubel, die Schweizer waren doch schon immer in Ordnung… Guildo Horn elektrisierte mit seinem Titel für den Grand Prix die ganze Nation – wie das ansonsten nur der Fußball zustandebringt. "Schlager lügen nicht" heißt ein Buch, erschienen passend zum Schlaghosenrevival der Spätneunziger in Deutschland.

"Schlager" – das war nach ursprünglicher Interpretation ein deutsches Musikstück, das sich erfolgreich als Produkt in der musikalischen Warengesellschaft bewährt hat. Der Schlager ist also ein aus der Operette des 19. Jahrhunderts entstandenes Werk der industrialisierten Massengesellschaft. So wie der Komponist die Melodie lieferte, richtete der Musikverlag das Produkt nach den Bedürfnissen der gesellschaftlichen Käuferschichten aus, um schließlich als Ware der demokratischen Luxuskultur die breiten Schichten meist jugendlicher Platten- und Konzertkartenkäufer zu erreichen. Durch seinen populistischen Charakter bedingt erscheinen die Inhalte des Schlagers immer auch der Stimmung seiner Ära angepaßt. Komponierte Robert Stolz noch 1916 "Du sollst der Kaiser meiner Seele sein", so wurde die Zeit der Weimarer Wirtschaftskrise in humorvollen Liedern verarbeitet, wie "Pleite, Pleite" aus dem Jahr 1924 von Hans Pflanzer und Victor Corzilius oder dem zwei Jahre früher entstanden "Wir versaufen unserer Oma ihr klein Häuschen" von Robert Steidl. Gerade in den vergnügungssüchtigen 20er Jahren fand solche Schlagermusik durch die neuen Medien des Rundfunks und Tonfilms enorme Verbreitung.

Nach der NS-Zeit, die durch Namen wie Marika Rökk, Johannes Heesters oder Zarah Leander, und durch Themen wie kämpferischen Elan, fröhliche Idylle und einsame Standhaftigkeit geprägt war, entstand der Schlager der "Stunde Null". Ausländische Swing-Elemente kamen nun zur Geltung, und die "Caprifischer" brachten die touristische Italienbegeisterung der frühen 50er zum Klingen. Mit "Wer soll das bezahlen" wurde humorvoll auf die sich abzeichnende deutsche Teilung und den Aufbau getrennter Administrationen eingegangen. Ansonsten war der Heimatschlager der Forsthaus-Filme dazu auserkoren, nach den schrecken der Kriegsjahre die vormoderne "heile Welt" zu besingen, in die bisweilen aber auch Andeutungen zu Gefangenschaft, Flucht und Vertreibung einflossen. Ein besonderes Phänomen des Schlagers äußerte sich darin, daß er immer aus Kraft und Gegenkraft gespeist war, also gleichzeitig "progressive" und "konservative" Strömungen aufweisen konnte. Während Peter Kraus und stärker noch Ted Herold in den 50ern mit Songs wie "Tutti Frutti" und "Carolin" das wilde Imponiergehabe des Rock’n Roll in Deutschland einführten, konterte die sogenannte "Schnulze" voller Fern- und Heimweh mit Liedern wie "Eine Handvoll Heimaterde" von Tom und Tommy, mit amerikanisch orientierten Westernsongs wie "Mein Schimmel wartet im Himmel" von Gus Backus, sentimentalen Seemannsliedern und immer noch aktuellen Italienanspielungen, vertreten von Interpreten wie Catarina Valente oder Vico Torriani.

Mit der wachsenden Unruhe der 60er Jahre entstanden neue Impulse für den Schlager. Drafi Deutscher entwickelte mit "Marmor, Stein und Eisen bricht" den deutschen Beat. Gleichzeitig formte sich auch wieder eine Gegenströmung. Diese wurde noch weniger durch Freddy Quinn und seinen rechtskonservativen Skandalsong "Wir", der sich gegen die Gammler-Subkultur der Vor-68er richtete, bestimmt. Vielmehr wurde dem Beat der softe "Sweet" entgegengesetzt, prägend verkörpert durch Roy Black mit "Ganz in Weiß". Und als Tausende von Töchtern und Söhnen der APO sich Straßenschlachten mit der Polizei lieferten, feierte Heintje mit "Mama" immense Erfolge, indem er der Hoffnung Ausdruck verlieh, daß die nachwachsende Generation nicht so undankbar gegenüber ihren Eltern sein werde, wie die Steine werfenden Studenten.

Doch die Veränderungen durch die 68er-Bewegung wirkten sich auch auf den Schlager aus. Mit dem Beginn der politischen Ära Brandt stand auch hier ein Generationswechsel an, der auf die zunehmende Abwendung der Jugend von deutscher Musik zu reagieren versuchte. Standen vorher "Zufriedenheit" und "Maßhalten" im Vordergrund deutscher Texte, so wurden nun das wilde Leben, freie Liebe und die Umgestaltung der Gesellschaft bevorzugt. Dieter Thomas Heck führte mit der ZDF-Hitparade lange Haare, Schlaghosen, Plateausohlen sowie Rock- und Discorhythmen in den Schlager ein.

Inspiriert durch das Musical "Hair" sang Rex Guildo anti-repressiv "Ich küß dich mitten in der Stadt, auch wenn uns tausend Menschen seh’n." Udo Jürgens übernahm mit "Zeig mir den Platz an der Sonne" das politische Credo der Zeit, kritisierte mit "Lieb Vaterland" 1971 die kapitalistische Gesellschaft und übte sich auch in der Folgezeit als witzelnder Protestsänger. Cindy und Bert propagierten mit "Hallo, Herr Nachbar" mehr Menschlichkeit im persönlichen Umgang. Ivan Rebroff wurde im Gefolge der Ostverträge zum positiven Vorzeige-Russen. Das damals vielbesungene Thema "Frieden" sollte nach Unterzeichnung der Ostverträge erst wieder mit Nicoles "Ein bißchen Frieden" im Zuge der Nachrüstungsdebatte der frühen 80er an Bedeutung gewinnen. Der Schlager wurde in den 70ern allgemein politisiert, so daß gar der CDU-Oppositionsführer Rainer Barzel 1972 eine Wahlkampf-Single mit dem Titel "Hits aus Bonnanza" aufnehmen konnte, Schlagersänger sich für die CDU engagierten. Vor allem aber das Thema Sex wurde nun, beispielweise in Dalidas "Er war gerade 18 Jahr", offen und kontrovers besungen. Die feministische Bewegung der 70er Jahre gebar zudem Schlagertexte über emanzipierte Frauen, wie Juliane Werdings "Wenn du denkst, du denkst" oder Gittes "So schön kann doch kein Mann sein", denen männliche Kollegen ein deutliches Contra entgegensetzten. Gunter Gabriel mit der LP "Damen wollen Kerle" auf rauhbeinige, Frank Zander auf blödelnde, Willy Brandts Lieblingsbarde Heino auf altdeutsche und Howard Carpendale mit "Wie frei willst Du sein?" auf feminismuskritische Weise.

Die frühen 80er Jahre waren schließlich geprägt durch Blödelbarden wie Vadder Abraham und die Schlümpfe, sowie aus Punk und New Wave innovativ entwachsene "Neue Deutsche Welle", die wie Marcus mit "Ich will Spaß" zumeist Abkehr vom dogmatischen Engagement der APO-Generation betrieb. Als 1984 die Neue Deutsche Welle abebbte, blieben nur noch einige Deutsch-Rocker wie Klaus Lage übrig.

Erst Ende der 80er kam es zu einer – bis heute gültigen – Reorganisation der Schlagerszene unter dem populären Dach der "volkstümlichen" Musikidyllen, verkörpert vor allem durch die Wildecker Herzbuben mit ihrem Gassenhauer "Herzilein". Nun ist das Jahrzehnt am Ende angelangt und der Schlager anscheinend auch. Neben dem heute dominierenden deutschen Rap hat eine obskure nostalgische Schlagerwelle das Land ergriffen. Doch Guildo Horn als liebenswerte Schlagersänger-Persiflage präsentiert sich mit seiner grellen Freakshow möglichenfalls eher als triumphaler Abgesang auf den überalterten Schlager in der bisherigen Erscheinungsform denn als Renaissance. André Port le roi hat ein unterhaltsames Werk zur Geschichte des westdeutschen Schlagers mit vielen Liedtexten vorgelegt. Manche darin enthaltenen Äußerungen scheinen etwas überinterpretiert, beispielsweise wenn behauptet wird, Roland Kaiser würde in "Santa Maria" ein Hohelied auf den Sextourismus singen. Und neben dem rechtskonservativ orientierten Sänger Freddy Quinn wird vor allem Gunter Gabriel unsachlich angegriffen, nur weil er sich erklärtermaßen gegen den Feminismus gewandt hat. Abgesehen von solch kleinen störenden Nebensätzen ist "Schlager lügen nicht" aber als zwingendes Lesebuch für Schlagernostalgiker jeder Couleur zu bewerten.

 

André Port le roi: Schlager lügen nicht. Deutscher Schlager und Politik in ihrer Zeit, Klartext-Verlag, Essen 1998, 224 Seiten, 19,80 DM


 
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