© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/98 22. Mai 1998

 
 
Unterwegs im zerstörten Tschetschenien: Individuelle und kollektive Geiselnahmen
Itschkerias Träume und Traumata
von Irena Brezna

Kommen wir heute als Gäste in die tschetschenische Republik Itschkeria, sind wir schon Geiseln, noch bevor wir welche werden könnten. Zwölf Leibwächter hat uns die tschetschenische Regierung zugeteilt. Tag und Nacht sind die Männer zwischen uns und der Außenwelt, mit Kalaschnikows, Pistolen, sogar Raketen. Steigen wir in einen Minibus ein, setzen sie sich neben uns. Und vor dem Bus fährt ein Polizeiwagen und hinter uns ein weiterer und seitlich noch einer. Wir schätzen den professionellen Schutz. Die russische Journalistin Jelena Masjuk reiste ohne Leibwächter und saß dann zweieinhalb Monate lang in einem Erdloch. Und von den englischen Helfern Camilla Carr und Jon James kommen seit elf Monaten nur ab und zu Lebenszeichen. Noch vor einem Jahr wurden Geiselnahmen bloß an entlegenen Orten gewagt, heute sind sie überall möglich.

"Dschochar-gala" heißt die zerstörte Stadt jetzt und nicht mehr "Grosnij", also nicht mehr das russische Eigenschaftswort "schrecklich" für die tschetschenische Hauptstadt, nicht mehr ein russisches Anhängsel im Nordkaukasus, sondern ein tschetschenisches Nomen: Dschochars Stadt, genannt nach Dschochar Dudajew, dem ersten gewählten Präsidenten, umgebracht vom russischen Geheimdienst. Die Ruinen des einundzwanzig Monate währenden Krieges wurden weggeräumt. Diese Stadt hat keine Mitte mehr, sie ist geleert worden. Eine Leere, die nicht leer ist. Die Geschichte ist in ihr. Hier fanden Demonstrationen für die Unabhängigkeit statt, hier war das Epizentrum des Krieges, hierher kommen die Menschen, wenn sie sich selbst suchen.

Dschochars Stadt: In den Ruinen lebt der Mythos

Während die Stadtarchitektur von russischen Bombern zerstört wurde, bildete sich eine neue "Architektur": Aus den tschetschenischen Clans erwuchs die Idee der Nation. Ihr Stifter, der zu Lebzeiten umstrittene Dschochar Dudajew, der die Unabhängigkeit auch zum Preis des Krieges gefordert hatte, ist auferstanden. Er habe den Anschlag überlebt, verletzt warte er im Verborgenen und werde sein Volk retten, wenn das Maß der Unerträglichkeit erreicht sei, munkelt man. Dudajew lebt, versichert sein Leibwächter, aber Dudajews Frau Alla trauert. Doch was heißt lebendig oder tot, wenn die Märtyrer des Widerstandes wirklicher sind als die Überlebenden, wenn das Leben erst dann beginnt, wenn man es verloren hat – für einen moralischen Wert? Hier beschloß der Mensch, sich angesichts der Übermacht nicht aufzugeben und wuchs über sich selbst hinaus. Der Besatzer wiederum sah bei diesem islamischen Volk nur das, was er fähig war zu sehen, und dem wollte er ein Ende setzen, in der eigenen Auslegung des Todes als dem Endpunkt – unablässig warf er Bomben auf religiöse und nationale Insignien, auf die Moscheen und die Residenz Dudajews. Schwarz wie Asche sollte dieses Land werden. Heute wehen neben den Einschußlöchern grüne Bänder der Islamkämpfer und die tschetschenische Fahne: zwei grüne Streifen für den Glauben an Allah, zwei weiße für die Güte, und aus der Mitte tritt ein roter für das Blut hervor, der wie ein Strom die anderen zu seinen Ufern macht.

Die Rettung wird aus dem Verborgenen erwartet, die Zerstörung kommt schon von dort. Zwei Drittel des Ackerlandes sind vermint, in den Wäldern sind nach dem Regen aus weißem Pulver die Bäume entlaubt worden, auf den Wiesen locken Spielzeugfrösche, die bei Berührung die Arme abreißen. Über ein Drittel der Minenopfer sind Kinder. Sechshundert von ihnen warten auf Prothesen. Itschkeria ist mit etwa einer Million Minen, Granaten und Bomben das drittverseuchteste Land der Erde. Die Menschen leiden an Ausschlägen und Erkrankungen der Luftwege. Ob in ihren Körpern die chemischen Waffen nachwirken oder die Erschöpfung der Seele und der Hunger? Zunehmend gibt es Neugeborene unter 200 Gramm, die sterben. Brutkästen liegen in den Trümmern. Neun von zehn Spitälern sind zerbombt, und das von internationalen Organisationen aufgebaute Spital haben "Ärzte ohne Grenzen" aus Angst vor Entführungen verlassen.

Die humanitäre Hilfe kommt spärlich. Und die westlichen Fernsehteams richteten ihre Kameras auf die zur Schau gestellten Hinrichtungen von zwei Mördern sowie auf den spektakulären Fall einer auf Hinrichtung wartenden Schwangeren, die inzwischen begnadigt worden ist, oder sie suchten nach Spuren eines entführten Schweizers und machten keinen Schwenk zu der Stille ringsherum. In ihr lebt Fatima, gepflegt und lächelnd. Wenn sie nicht in Ohnmacht gefallen wäre, hätten wir nicht erfahren, daß ihr Unterarm deshalb blau ist, weil sie Blut gespendet hatte, um Essen zu kaufen für ihre Familie und die acht Waisenkinder ihres erschossenen Bruders. Fatima hätte ihre Sorgen den Gästen nicht durch Worte enthüllt. Die Scham ist die Begleiterin der Not.

Die tschetschenische Regierung spricht von einer 90prozentigen Arbeitslosigkeit. Die Tätigkeit des Mannes ist das Warten. In dieses Warten tritt der Onkel, der Schwager und gibt Geld, und wenn er wieder vorbeikommt und sagt: tue es für mich, dann stülpt sich der Mann die Wollmütze über den Kopf und den Sack über den Kopf eines Fremden, stößt in dessen Rippen die Kalaschnikow und führt ihn in den Keller ab; und wenn er ihm das Essen bringt, fragt er ihn aus, begierig nach einem anderen Leben, während er ihm sein eigenes Warten aufzwingt, für dessen Ende er einige hunderttausend oder eine Million US-Dollar verlangt.

Rußland, empört über die Anfang des Jahres erfolgte Neubesetzung des tschetschenischen Ministerpräsidentenpostens mit Schamil Basajew, beharrt auf dem Beinamen "Terrorist", den es dem ehemaligen Widerstandsführer gab, als er während des Krieges in der russischen Stadt Budjonnowsk ein Krankenhaus besetzte und Geiseln nahm, um den Besatzer an den Verhandlungstisch zu bringen. Mit Erfolg. In Itschkeria, wie sich die tschetschenische Republik selbst nennt, hat Basajew den Beinamen "Nationalheld" bekommen, er genießt Achtung, die er nun als Polizist braucht. Er hat den vielen kriminellen Banden, die sich nach dem Krieg formiert haben, einen schonungslosen Kampf angesagt. Die Spezialeinheiten haben schon etliche Geiseln befreit, darunter vor allem einheimische Bürger, aber auch fünf Polen. Außerdem hat die Regierung die eingeführten öffentlichen Hinrichtungen gemäß der Scharia-Rechtssprechung wieder abgeschafft.

Russische Blockadepolitik: Krieg mit anderen Mitteln

Rußlands Regierung weiß die Entführungen für sich zu nutzen oder organisiert sie sogar mit, wie es Basajew behauptet. In Itschkeria versteht man die diversen Maßnahmen zur Isolation des Landes als eine neue Phase des Krieges, als Genozid durch Aushungern und Krankheiten: Lastwagen mit humanitärer Hilfe warten auf eine Erlaubnis aus Moskau, die ganze Grenze zu Itschkeria ist vermint, russische Kontrollposten sind mit den berüchtigten OMON-Einheiten des Innenministeriums aufgestockt worden. Das Tor über die Luft ist kontrolliert: Die einzige Flugverbindung nach Itschkeria ist aus Moskau.

Rußland, das während seines Krieges gegen das Einmillionenvolk Mitglied des Europarates geworden ist und von den westlichen Steuergeldzahlern Miliarden an Dollars Entwicklungshilfe nachgeworfen bekam, um sie sogleich als verbotene Vakuumbomben und als Napalm über tschetschenischen Dörfern abzuwerfen, wurde von den Europäern nicht aufgefordert, als Gegenleistung das Fremdwort "Dekolonisation" ins Russische einzuführen. Und die Kolonialmacht wandelt sich weder in ihrer Sprache noch in ihrem Tun – keine Entschuldigung für die 100.000 Toten, keine Bestrafung der Folterer, die in den "Filtrationslagern" freie Hand für ihre Grausamkeiten hatten, und auch kein Geld für den Wiederaufbau.

In Rußland (und nicht nur dort) heißt Dschochar-gala weiterhin Grosnij und ist im kollektiven Bewußtsein noch immer jener russische Vorposten, den der General Jermolow auf seinem Eroberungszug im Jahre 1818 mit der Begründung errichten ließ, daß aus dem Kaukasus das ganze Unglück Rußlands komme: Der Name der Festung sollte die Bergstämme erschrecken. Doch derjenige, der das Wort "schrecklich" in die Welt gesetzt hat, um sein eigenes Unglück abzuwenden, und sich von seiner Sprache nicht mehr lösen kann, wird von ihr eingeholt. Erwähnt man heute in Moskau das Vorhaben nach "Grosnij" zu fahren, verbreitet man Schrecken: Die Tschetschenen gelten als blutrünstige Krieger und die grausamsten Drahtzieher der Unterwelt, die Rußland aussaugen. Itschkeria als "kriminelle Region" und als "Herd der kriminellen Expansion" sind Standardbegriffe geworden. Für die russische Presse ist es selbstverständlich, daß die heutigen tschetschenischen Kriminellen alle ehemaligen Widerstandskämpfer sind. Schon im Krieg wurden sie für gewöhnlich "banditi" genannt.

Im Jahr 2001 soll in Verhandlungen zwischen Itschkeria und Rußland über die Unabhängigkeit entschieden werden. Bis dahin will Moskau Itschkeria so schwächen, daß es sich dem Willen der Großmacht fügt. Und in den Schlagzeilen der Weltpresse tauchen anstelle der Zeugnisse dieser brutalen Politik die tschetschenischen Geiselnehmer auf. Die Geiselhaltung eines ganzen Volkes wird jedoch weiter als "innere Angelegenheit Rußlands" bezeichnet.

Immerhin: Die Leere des Zentrums von Dschochar-gala füllt sich neu – entlang den Bäumen, die ihre Äste verloren haben, um den Bewohnern zu gleichen, wächst ein flüssiger Verkehr heran. Inmitten der Kargheit wurden Straßenlaternen und eine Fontäne aufgestellt. Mit Zärtlichkeit und mit Stolz zeigt man den Gästen den Überfluß, die wenigen Quadratmeter Sehnsucht nach Normalität. In diesem Krieg gibt es für uns keinen Stadtspaziergang, wie früher in der belagerten Stadt an den russischen Panzern vorbei. Jenes Risiko war kleiner und anders als dieses, durch Unachtsamkeit unserer Gastgeber sich dem Ruf "grosnij" auszuliefern. Es ist die harmloseste Art, kaukasische Gefangene zu sein, und privilegiert zudem – mit der Rückfahrtkarte in der Reisetasche. Sie vermittelt aber eine Ahnung vom Lebensgefühl des Eingeschlossenseins der Tschetschenen. Es mag eine Art Gerechtigkeit sein, dieses zusammen mit ihnen zu ertragen. Gerechter wäre es jedoch, wenn die Tschetschenen in der Welt auch so gute Beschützer finden würden, wie wir sie haben. Die zwölf Leibwächter sitzen um uns herum, die Kalaschnikow auf den Knien und singen "sikr". Das polyphone Gebet füllt den Raum und sprengt ihn zugleich.


 
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