© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/98 22. Mai 1998

 
 
Die Freiheit, die der Westen meint
von Wolfgang Lasars

Freiheit, so heißt das Lieblingswort der westlichen Mächte. Was verstehen die westlichen Mächte unter Freiheit? Was meinen die westlichen Mächte, wenn sie von Freiheit reden?

Als "Triumph der Freiheit" verstehen die westlichen Mächte ihre Machtpolitik. Gut zehn Jahre vor der Atlantik-Charta wurde dieses Verständnis 1923 in der außenpolitischen Zeitschrift Foreign Affairs wie folgt beschrieben: Es sei die Entdeckung der Neuen Welt und ihrer Ressourcen, welche die Kriege von Spanien, Frankreich, England und den Niederlanden verursacht habe. Diese Kriege endeten schließlich "in einem nahezu vollständigen Triumph der liberaleren und demokratischeren englischsprechenden Zivilisation".

Ab 1822, knapp ein Jahrhundert lang, hätte sich Großbritannien von Europa ferngehalten und auf die Entwicklung und Regierung der riesigen Besitzungen konzentriert, die ihr in den verzweifelten Kriegen in der napoleonischen Zeit "zugefallen" seien: "Überall in diesem Reich hat (Großbritannien) ein jahrhundert lang nahezu ungebrochen Frieden gewahrt – die Pax Britannica – und es hat gute Regierungen, Gesetze und zu einem gewissen Grade materiellen Fortschritt gebracht."

Im Jahre 1897 wurde in London das Diamantene Jubiläum der Herrschaft von Königin Viktoria gefeiert. In den Feierlichkeiten atmete "ein nicht unberechtigter Stolz der Einwohner der kleinen Heimatinsel auf die Errungenschaften in Übersee". "Es war Instinkt mit einem Sinn für Macht, ein schwungvolles Vertrauen in das imperiale Schicksal von Britannien." Das Britische Empire stütze sich nicht nur auf die Seemacht, auf militärische Macht und auf wirtschaftliche Stärke. Ein psychologisches Band halte das Britische Empire zusammen: "Es ist eine Hinwendung zu den gemeinsamen Idealen von Freiheit und Gerechtigkeit, welche ihre wachsende Verkörperung in den freien Institutionen findet. Die freien Institutionen sind Britanniens größtes Vermächtnis an sein Reich gewesen", so M. Long 1928 in Foreign Affairs.

Freiheit als "Seele" der kolonialen Unterdrückung und Ausbeutung! Ein Hals unter einem kolonialen Joch wird als Freihals, als Freiheit deklariert. Die Bedeutung von Freiheit wird so in ihr Gegenteil verkehrt. – An dieser Verkehrung wird im Westen auch nach der Atlantik-Charta festgehalten. Der Franzose Jean Guiton vertieft (in Europa-Archiv 1952) unser Verständnis von westlicher Freiheit durch die ausdrückliche Rechtfertigung von Unfreiheit und der westlichen Herrschaft über andere Völker:

"Dagegen wäre es ein verhängnisvoller Irrtum, die Freiheit, welche die kolonialen Völker fordern, als ein Absolutum aufzufassen, das sich etwa auf die Menschenrechte gründen würde. Die Wertordnungen und Lebensformen, die durch die westeuropäische oder nordamerikanische Situation bedingt wird, lassen sich nicht von heute auf morgen durch den Beschluß eines politischen Gremiums auf die kolonialen Völker übertragen. Von der grundsätzlichen Achtung vor dem Menschen, die an allen Orten und unter allen Umständen selbstverständlich ist, lassen sich für den Gebrauch der kolonialen Völker nicht die Schlußfolgerungen ziehen, die in Europa oder Nordamerika die demokratischen Institutionen rechtfertigen. Daß dem Menschen die Entscheidung, wie er zu leben hat, entzogen wird, kann erst dann als ein Verstoß gegen seine Würde angesehen werden, wenn dieser Mensch sich als fähig erwiesen hat, das Gute zu erkennen und auch zu wollen!"

Die Grenze dessen, was recht und billig sei, werde überschritten, wenn auf die radikale Beseitigung der Kolonialmacht gedrängt werde. Professor Guiton beklagt eine Verwirrung der Begriffe, welche den Kolonialmächten "das unangebrachte (!) Bewußtsein einer moralischen Schuld" hervorgerufen hätte. Das abschreckend Inhumane des westlichen Verständnisses von Freiheit steigert sich in der Kritik an einem "humanitären Pathos" bezüglich des Schicksals der unterjochten Völker:

"Das humanitäre Pathos hat auch dazu geführt, daß die Kolonialmächte zugleich unter einer Art moralischen Drucks und unter Zwang verhandeln, der durch die Stärkung der Position der kolonialen Völker bedingt ist. Man verhandelt weder unter Druck noch unter Zwang, wenn ein gerechter Kompromiß erzielt werden soll."

Dieses westliche Denkenist beklagenswerterweise immer noch nicht tot! Anderes anzunehmen, hieße Luftbilder schaffen oder ideologischen Irrlichtern nachjagen. Der Westen versteht Freiheit auch heute noch als einen Hals unter dem westlichen Joch. Halten wir aus unseren Tagen die klaren Worte zweier berühmter und geadelter Persönlichkeiten aus dem Westen fest, einer Politikerin und einem Philosophen, Baroness Margaret Thatcher und Sir Karl Popper. Zunächst zur ehemaligen Premierministerin Thatcher in Newsweek vom 27. April 1992:

"Es ist die Heiligkeit des Individuums und seine Verantwortlichkeit für den Gebrauch seiner Talente und seiner Fähigkeiten, die Überzeugung, daß Freiheit eine moralische Qualität ist, die auf dem Alten und Neuen Testament beruht. Aber Freiheit kann nur in einer zivilisierten Gesellschaft mit Rechtsstaat und dem Recht auf Privateigentum existieren … Ich habe immer gesagt und geglaubt, daß der britische Charakter ganz unterschiedlich vom Charakter der Völker auf dem Kontinent ist – ganz unterschiedlich. Es gibt einen großen Sinn für Fairneß und Gerechtigkeit im britischen Volk, einen großen Sinn für Individualität und Initiative. Sie lieben es nicht, herumgeschubst zu werden. Wie sonst hätte dieses eher kleine Volk von den Zeiten Elisabeths an hinaus in die Welt gehen können und solch einen Einfluß auf sie haben?"

Diesen imperialistischen, bis heute ungebrochenen Hochmut der Briten und den bis heute ungebrochenen Stolz der Briten auf britisches "Herumschubsen" fremder Völker, beides verherrlicht Alt-Premierministerin Baroness Thatcher. Ein "Herumschubsen" anderer Völker hat es in der Geschichte häufig gegeben, das Besondere dieses Denkens liegt in der Verknüpfung kolonialer Unterjochung mit einer "Überzeugung, daß Freiheit eine moralische Qualität" sei.

Sir Karl Popper (1902–1994) gilt mit seinem kritischen Rationalismus als der bedeutendste westliche Wissenschaftsphilosoph der Gegenwart. Sein Denken übte zeitweise auch für Bonner Politiker eine Art Leitbildfunktion aus. Der in Wien Geborene emigrierte 1937 nach Neuseeland und wohnte seit 1945 in England. Seine gereifte Meinung, anläßlich seines neunzigsten Geburtstags im Spiegel (13/1992) geäußert, bringt das westliche Denken noch einmal mit kompromißloser Klarheit auf den Punkt:

"Die Staaten der zivilisierten Welt, die nicht verrückt geworden sind, müssen hier (gegen Staatspräsident Hussein) zusammenarbeiten … Nicht nur gegen Saddam. Es muß eine Art Einsatztruppe der zivilisierten Welt für solche Fälle geben. Im überholten Sinne pazifistisch vorzugehen wäre Unsinn. Wir müssen für den Frieden Kriege führen. … Wir sollten uns bemühen, in dieser Pax americana so aktiv mitzuarbeiten, daß es eine Pax civilitatis wird."

Und auf die Frage: "Aber Sie werden doch kaum bestreiten können, daß es in weiten Teilen der Dritten Welt Massenelend gibt?" antwortete er: "Nein. Aber das ist hauptsächlich auf politische Dummheit der Führer in den verschiedenen Hunger-Staaten zurückzuführen. Wir haben diese Staaten zu schnell und zu primitiv befreit. Es sind noch keine Rechtsstaaten. Dasselbe würde geschehen, wenn man einen Kindergarten sich selbst überließe."

Welch eine Arroganz spricht aus diesem westlichen Munde! Zwei bis drei Jahrhunderte der westlichen Vormundschaft und westlichen "Erziehung" scheinen diesem Denken immer noch nicht ausreichend! Die unersättliche Ehrbegierde, der grenzenlose imperiale Hochmut des Westens treten uns in diesen Worten von Sir Karl Popper noch einmal entgegen. Aus seinem bezeichnenden Bedauern über die Entkolonialisierung spricht die typisch unbelehrbare Borniertheit im Westen: Hätten "wir" diese außereuropäischen Staaten doch nicht "zu schnell und primitiv befreit"!

Den Widerspruch des Westens, sich einerseits als Leuchte der menschlichen Zivilisation zu gerieren und andererseits fremde Völker zu unterjochen und fremde Kulturen zu mißachten, hat bereits der große Königsberger Denker Immanuel Kant in seinem Werk "Zum ewigen Frieden" in ebenso deutlichen Worten zum westeuropäischen Kolonialismus gegeißelt. Seine Worte sind bis heute gültig. Auch wenn er sich leider über die Lebensdauer des westlichen Kolonialismus irrte, ist seine Kritik von einer Deutlichkeit, der auch heute, zweihundert Jahre danach, nichts hinzuzufügen ist:

"Das Ärgste hierbei (oder, aus dem Standpunkte eines moralischen Richters betrachtet, das Beste) ist, daß sie (die westeuropäischen Kolonialmächte, W. L.) dieser Gewalttätigkeit nicht einmal froh werden, daß alle diese Handlungsgesellschaften auf dem Punkte des nahen Umsturzes stehen, daß die Zuckerinseln, dieser Sitz der allergrausamsten und ausgedachtesten Sklaverei, keinen wahren Ertrag abwerfen, sondern nur mittelbar, und zwar zu einer nicht sehr löblichen Absicht, nämlich zur Bildung der Matrosen für Kriegsflotten, und also wieder zur Führung der Kriege in Europa dienen, und dies möchten (die westeuropäischen Kolonialmächte, W. L.), die der Frömmigkeit viel Werks machen, und, indem sie Unrecht wie Wasser trinken, sich in der Rechtgläubigkeit für Auserwählte gehalten wissen wollen."


 
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