© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/98 22. Mai 1998

 
 
Kulturförderung: Der Bund macht Ostdeutschland zu Ostmitteleuropa
Kontienent aus der Retorte
von Thorsten Hinz

Im Februar war in dieser Zeitung unter der Überschrift "Schlesien ist kriminell" ein Bericht über die Streichung der Finanzmittel des in Bergisch-Gladbach ansässigen "Instituts für deutsche Musik im Osten" durch das Bundesinnenministerium und seine Ersetzung durch eine "Gesellschaft für deutsch-osteuropäische Musik" zu lesen, in deren Satzung die ehemaligen deutschen Ostprovinzen und anderen ehemaligen Siedlungsgebiete nicht mehr vorkommen. Sonst fand dieser Vorgang nur bei den Vertriebenen Beachtung; die Entrüstung war immerhin laut genug, um den zuständigen Ministerialdirigenten Klaus Pöhle in der Kulturpolitischen Korrespondenz zu einer Erwiderung zu veranlassen. "Niemand", schreibt Pöhle, "wird so borniert sein, ‘Schlesien’ durch den Begriff Ostmitteleuropa zu ersetzen." Ein paar Sätze weiter aber verteidigt er die Neueinrichtung eines "zentralen Musikwissenschaftlichen Instituts zu Erforschung der deutschen Musikkultur im östlichen Europa".

Solche Aussagen sind programmatisch für die aktuelle Kulturpolitik des Bundes, der über das Bundesvertriebenengesetz zur Pflege und Bewahrung des Kulturerbes der deutschen Vertriebenen verpflichtet und der wichtigste Geldgeber ist. Der Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz, Jörg Bernhard Bilke, beklagte am 7. April in einem Gastkommentar in der Welt die neue, "von bundesoffizieller Seite" betriebene Sprachdidaktik, die zur "Auslöschung ostdeutscher Geschichte und Kultur" führe, nämlich der "Ersetzung geschichtsträchtiger Landschaftsnamen wie Schlesien, Pommern, Ostpreußen durch das Schwammwort ‘Ostmitteleuropa’" – ein Begriff, den es in Lexika gar nicht gibt. Auch wenn man "Auslöschung" für überzogen hält: Fest steht, daß die Fortschritte in der ostdeutschen Kulturpflege seit 1989 damit konterkariert werden.

Zu den Fortschritten zählt, daß sich in der Ex-DDR Vertriebenenverände konstituierten und ihre Treffen und Kulturtage abhalten. Zu nennen sind die vom Bund geförderten Pläne für ein Pommersches Landesmuseum in Greifswald und für ein Schlesisches in Görlitz. In Polen wiederum etabliert sich eine Geschichtsschreibung über die Nachkriegszeit, die nationale Tabus abstreift. In Stettin erscheint eine polnisch-deutsche Broschürenserie "Stettin in alten Ansichtskarten", die eindeutig darstellt, daß das "alte" Stettin natürlich ein deutsches war. Die Polen wissen, daß Stettin für deutsche Touristen nicht einfach eine "ostmitteleuropäische" Stadt ist wie Warschau oder Krakau und begreifen das deutsche Erbe als Teil ihrer regionalen Identität. Um so mehr befremdet die deutsche Beflissenheit bei der Umwidmung der ostdeutschen Kultur und Geschichte in eine "ostmitteleuropäische".

Anfang der 90er Jahre forderte der renommierte Osteuropa-Historiker Hartmut Boockmann, auf den Begriff "Ostdeutschland" für die Ex-DDR zu verzichten, weil diese Sprachgebung verdecke, "daß es Ostdeutschland nicht mehr gibt, indem sie ein neues Ostdeutschland erfindet". Heute ist klar, daß die Begriffe "Ostdeutschland" für die Ex-DDR und "Westdeutschland" für die Alt-BRD sich durchgesetzt haben. Was zur Beschreibung der politischen Gegenwart angehen mag, greift nun unerbittlich auf Historiographie und Kulturgeschichte über, wodurch für den ostdeutschen Kulturaum ein begriffliches Vakuum entsteht, das mit dem Terminus "Ostmitteleuropa" gefüllt wird. Das führt zur Negierung historischer Tatsachen und zur Verfremdung eines großen Kulturerbes. "Ist der Ostpreuße Immanuel Kant künftig ein ‘ostmitteleuropäischer’ Philosoph, der Schlesier Joseph von Eichendorff ein ‘ostmitteleuropäischer’ Dichter?" fragt Bilke.

Natürlich muß und wird es in der Kulturarbeit Veränderungen geben. Allein durch den Abtritt der Erlebnisgeneration verschieben sich die Aufgabenstellungen, tritt die seelsorgerische Funktion zurück und die wissenschaftliche stärker in den Vordergrund, ist Bündelung und Konzentration angesagt. Auch die verstärkte Erforschung interkultureller Zusammenhänge steht auf der Tagesordnung, weil erstens die ostdeutsche Kulturpflege nur sinnvoll ist, wenn sie die neuen Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit den heutigen Bewohnern ausschöpft, und weil zweitens anzuerkennen ist, daß die ethnischen und kulturellen Gegebenheiten, wie sie 1945 in Ostdeutschland bestanden, ebenfalls Ergebnisse geschichtlicher Entwicklungen ist und Regionen wie Oberschlesien bis in das 20. Jahrhundert hinein auch von Nichtdeutschen geprägt wurden. Die Erforschung der Regionalgeschichte öffnet den Blick für solche wichtigen Aspekte; sie jedoch gänzlich an die Stelle von Landes- oder Nationalgeschichte zu setzen und Ostdeutschland zum multikulturellen Zwischenraum oder Niemandsland zu machen, ist eine Verfälschung. Dagegen allein auf die "Unabhängigkeit der Wissenschaft" zu setzen, wäre eine Fehlkalkulation, denn Forschungsinstitutionen sind von der veröffentlichten Meinung mindestens ebenso abhängig wie von den Geldgebern. So ist im zweisprachigen Katalog "Pommern-Danzigs Nachbarn im Westen" vom Landesarchiv Greifswald die 1945 vollzogene Grenzziehung auf das Mittelalter rückprojiziert, indem die vorpommerschen Namen auf deutsch, die in Mittel- und Hinterpommern aber konsequent polnisch (nicht zweisprachig!) aufgeführt werden. Was auf eine Einbindung Pommerns ins Deutsche Reich hinweist, bleibt entweder unerwähnt oder wird verklausuliert. Für Vertriebene und Flüchtlinge wird das verharmlosende Propagandawort "Umsiedler" benutzt.

Außerdem geht es neben der Wissenschaft auch um populäre Kulturpolitik, um Museums- und Archivarbeit, um Bibliotheken, Ausstellungen, die Förderung von Büchern, Zeitschriften, um Arbeitsstipendien, Medienpräsenz. Bayerisches oder brandenburgisches Erbe wird gleichsam selbstverständlich im Alltag und durch die Kulturarbeit auf kommunaler oder Landesebene weitergegeben. Geht es um Ostdeutschland, ist gar nichts mehr selbstverständlich. Hier bedarf es neben einer guten Finanzausstattung auch klarer kulturpolitischer Vorgaben, bei denen die Kultur aber einen Primat gegenüber der Politik haben muß.

Die Sprachdidaktik, die die Vergangenheit mit der Gegenwart kompatibel machen soll, läuft auf die Entsorgung ostdeutscher Kultur und Historie hinaus. Man kann durchaus die 1990 bestätigte Grenzziehung als Grundlage guter Nachbarschaftsbeziehungen befürworten und trotzdem die "Hakenterrasse" in einem bis 1945 deutschen (nicht "ostmitteleuropäischen") Stettin belassen. Doch deutsche Politbürokraten können sich Kultur nur als Küchenfee der Politik vorstellen. Das ist, wie zuletzt die Schließung mehrerer Goethe-Institute gezeigt hat, in der auswärtigen Kulturpolitik nicht anders. Das Kulturverständnis der politischen Klasse in Deutschland ist peinlich unterentwickelt.


 
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