© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/98 22. Mai 1998

 
 
Leipzig: Vor 30 Jahren wurde die gotische Universitätskirche in die Luft gesprengt
Die Stadt sozialistisch aufbauen
von Hans B. von Sothen

Der 30. Mai 1968 ist kein normaler Tag für Leipzig. Die Unruhe der Bürger ist überall zu spüren. Schon um 9 Uhr morgens sind Menschen mit Fotoapparaten und Filmkameras unterwegs. Es zieht sie ins Stadtzentrum an den Karl-Marx-Platz, der eingerahmt ist vom Gewandhaus, dem weltberühmten Konzertsaal, dem Universitätsgebäude, dem Hauptpostamt und der gotischen Universitätskirche. Aber das Gelände ist weiträumig abgesperrt. Immer größer wird die Menschenmenge. Die Volkspolizei bildet Absperrketten. Die Erregung steigt. Erste Pfiffe und Buhrufe ertönen. Überall sind Beamte der Bereitschaftspolizei und der auffällig-unauffälligen Staatssicherheit zu sehen. Lautsprecher dröhnen: "Bürger der DDR! Verlassen Sie bitte sofort den Karl-Marx-Platz! Ihre Zusammenkunft ist ungesetzlich!" Als einzelne Menschen versuchen, sich den Befehlen widersetzen und auf das Gelände um die Universitätskirche vorzudringen, werden sie festgenommen.

Punkt zehn Uhr sollte die Leipziger Universitätskirche in die Luft gesprengt werden, so kündigte es die Leipziger Volkszeitung (LVZ), das Organ der SED, und alle anderen regionalen Tageszeitungen der Blockparteien und der Massenorganisationen an. In die Luft gesprengt? Im Behördenjargon hieß das "Abtragung von Altbausubstanz".

Die Sprengung der baulich noch völlig intakten Kirche, die nicht nur von der Leipziger Bevölkerung als ein Akt unglaublicher Kulturbarbarei angesehen wird, hat eine lange Vorgeschichte. Schon am 2. Oktober 1960 wird die Leipziger Bevölkerung aufgerufen, ihre Meinung zum Wiederaufbau der Stadt kund zu tun. Eine Ausstellung mit Plänen und Modellen war im Neuen Rathaus zu sehen. Mehrere Modelle wurden gezeigt. Die Ernüchterung der Interessierten folgte schnell. Denn keines der Modelle zeigte die Universitätskirche. Die Besucher der Ausstellung machen ihrer Wut und ihrem Schock über die Pläne im Besucherbuch und in Gesprächen Luft. Erste Konsequenz des SED-Staates: Nach einigen Tagen lag kein Besucherbuch mehr aus. Kritiker, vor allem aus christlichem Umfeld, wurden von der Parteipresse gröblichst beleidigt. Die LVZ fragte, warum denn die Kritiker nicht zuerst gegen den westdeutschen Imperialismus aufträten. Sie seien mit ihrer Opposition dagegen, "daß unsere Stadt Leipzig neu, schöner und sozialistisch modern zur Freude aller Bürger aufgebaut wird".

Zwar werden vorerst die Pläne wegen des unerwarteten Widerstands der Bevölkerung nicht weiter verfolgt, doch der Spiritus rector des Abrisses, SED-Chef Walther Ulbricht, selbst gebürtiger Leipziger, läßt nicht locker. Er selbst dilettiert seit Anfang der 50er Jahre in sozialistischer Architekturtheorie, zunächst im Kampf gegen den "Formalismus" der Bauhaus-Architektur und für "sozialistischen Städtebau" im Sinne des vorherrschenden Zuckerbäckerstils, wie er in der Berliner Karl-Marx-Allee oder in den ersten Großbauten in Stalinstadt (später Eisenhüttenstadt) hervortrat. Ulbricht, Ehrenmitglied der Berliner Bauakademie, stellte fest, "daß es jetzt besonders darum geht, in der Monumentalkunst die Größe und Schönheit unserer sozialistischen Gegenwart, den Helden unserer Tage und die geschichtlichen Kämpfe der deutschen Arbeiterklasse zu gestalten". Führender Planer der sozialistischen Umgestaltung der Leipziger Innenstadt wurde der Ostberliner Staatsarchitekt Hermann Henselmann. Er sah in der Architektur vor allem die Möglichkeit zur Darstellung sozialistischer Lebensweise. Für eine gotische Hallenkirche war bei der Planung eines genuin sozialistischen Platzes, der den Namen von Karl Marx trug, kein Raum.

Noch einmal, im Jahre 1964, scheiterte ein Vorstoß Ulbrichts an der Leipziger Universität tabula rasa zu machen. Diesesmal protestierten sogar zwei Mitglieder des Kabinetts: Kulturminister Bentzien und Innenminister Dickel.

1968 schließlich war Parteichef Ulbricht endgültig entschlossen, gegen alle Widerstände seinen Plan zum Neuaufbau durchzusetzen. Eine Pressekampagne ohnegleichen ergießt sich in diesen Tagen über die Leipziger. In aller Eile wird das Grab des Dichters Christian Fürchtegott Gellert exhumiert. Votivtafeln und Epitaphe werden aus den Mauern gerissen, Altare und Orgel entfernt und noch in der Nacht vor dem Abriß mit Kippern abtransportiert. Viele Kunstgegenstände können aber nicht mehr gerettet werden. In der letzten Nacht leuchtet aus der Sakristei grelles Licht.

Am folgenden Tag werden in der medizinischen Fakultutät Flugblätter verteilt: "Tag der Kulturschande!" Ein Mann mit dem Plakat "Ich gratuliere" steht auf der Universitätsstraße. Er wird verhaftet. Von der Thomaskirche herab kündet einige Stunden lang ein Transparent: "Auch abreißen!" Wut und stummer Protest. Aber es ist alles umsonst. Um 12 Uhr erfolgt die Sprengung.


 
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