© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/98 22. Mai 1998

 
 
Linke, Rechte und Nation
von Dieter Stein

Wenn die Zeichen der Zeit im Moment auch anderes zu zeigen scheinen: Die Auflösung althergebrachter politischer Schlachtordnungen ist in vollem Gange. Eine Rückkehr in die Schützengräben des europäischen Bürgerkrieges der ersten Jahrhunderthälfte wird es nicht geben. Allenfalls als Farce. "Rote Socken"- und "Nazi"-Hysterie können das auch nicht herbeireden oder wiederbeleben. So sehr es auch einigen Wahlkampfstrategen in den Kram passen würde. Antifaschismus und Antikommunismus sind Geschichte. Der rührende Devotionalienhandel, die Gedenkbände und Filme, die an alte Zeiten erinnern, holen das Vergangene nicht zurück.

Die politischen Kräfte, die ein Land um einer Ideologie willen spalten wollen, haben keine Chance mehr. Doch es muß etwas geben, was dieses Land zusammenhält, wenn es soziale und politische Belastungen aushalten soll. Dieses Band ist der Patriotismus oder das Nationalbewußtsein. Das einigende Band muß gehütet werden. Daß dieses Band sehr dünn sein kann und nicht endlos Belastungen standhält, kann man in vielen Ländern beobachten.

Die Deutschen tun sich schwer mit einem normalen Gemeinschaftsgefühl. Es ist schon ungewöhnlich, wenn man die Grünen-Politikerin Antje Vollmer in der Paulskirche schüchtern die Nationalhymne singen sieht. Hinter ihr der ebenfalls grüne Justizminister von Plottnitz, der die Lippen zusammenpreßt. Psychologen wollen bei den Deutschen sogar einen "Gefühlsstau" entdeckt haben. Es gibt zu wenig Gelegenheiten, sich positiv und zu viele Anlässe, sich negativ mit dem Eigenen zu identifizieren.

Bei der Verleihung des Nationalpreises in Berlin bekannte Wolf Biermann, wie sehr ihn die nationale Frage, die "Teilung des Vaterlandes" als Liedermacher getrieben hat. Er meint dies aufrichtig und ohne Pathos. Warum ist das so selten möglich? Warum erinnern wir nur in Moll-Tönen an unsere Geschichte, die eben nicht nur "schrecklich" war?

Beim Gespräch mit Schülern aus Berlin-Lichtenberg (siehe Gespräch Seite 4-5) wird weiterhin deutlich: Es gibt eine Sehnsucht nach selbstverständlichem Zusammengehörigkeitsgefühl, das auch national beantwortet werden müßte. Gleichzeitig ist eine Aversion gegen politische Parolen von vorgestern zu beobachten. Die Liebe zum eigenen Volk und Land könnte manchen Graben überbrücken, der unüberwindlich scheint und unsere Entwicklung hemmt. – Modernes Nationalbewußtsein muß übrigens keineswegs nur von "rechts" kommen. Das ist ein großer Irrtum. Ein solches Bewußtsein kann alle Strömungen erfassen. Das Nationale ist nur so lange irritierend und wird "Rändern" zugeordnet, solange man es diesen überläßt.


 
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