© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/98 05. Juni 1998

 
 
Flandern und das neue Zeitalter: Souveränität ist auch ökonomisch ein Gebot der Stunde
Epoche der Staatengründungen

von Martin Schmidt

Es ist immer wieder erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit nach wie vor viele Politiker, Journalisten und Ökonomen mit dem Begriff "Globalisierung" jonglieren und damit ein stetes Zusammenwachsen der verschiedensten Gebiete der Erde zu einem "westlich" geprägten "Global Village" meinen – dem ersehnten einheitlichen Markt der unbegrenzten Möglichkeiten. Dabei ist es nur allzu offensichtlich, daß die Entwicklungstendenzen nach dem Ende des Kalten Krieges und der bipolaren Weltordnung so komplex sind, daß man sie mitnichten auf die Formel eines immer weitergehenden Zusammenwachsens der Volkswirtschaften und Kommunikationsnetze bringen kann, mit der "zwangsläufig" auch die Verflechtung von politischen Strukturen und die Annäherung der Kulturen einhergeht.

Spätestens seit den Diskussionen, die auf das Erscheinen von Samuel Huntingtons bahnbrechendem Werk über den "Clash of Civilizations" (Zusammenprall der Kulturen) folgten, müßte eigentlich klar geworden sein, daß, wie Huntington feststellt, das Konzept einer universalen Kultur ein "typisches Produkt des westlichen Kulturkreises" ist. Im ausgehenden 20. Jahrhundert dient dieses Konzept einer universalen Zivilgesellschaft dazu, so der Harvard-Professor weiter, "die kulturelle Dominanz des Westens über andere Gesellschaften und die Notwendigkeit der Nachahmung westlicher Praktiken und Institutionen durch andere Gesellschaften zu rechtfertigen. Universalismus ist die Ideologie des Westens angesichts von Konfrontationen mit nichtwestlichen Kulturen. (...) Was Westler als segensreiche globale Integration anpreisen, zum Beispiel die Ausbreitung weltweiter Medien, brandmarken Nichtwestler als ruchlosen westlichen Imperialismus. (...) Es ist reine Überheblichkeit zu glauben, daß der Westen, nur weil der Sowjetkommunismus zusammengebrochen ist, die Welt für alle Zeiten erobert hat, und daß Muslime, Chinesen, Inder und alle anderen nun nichts Eiligeres zu tun haben, als den westlichen Liberalismus als einzige Alternative zu übernehmen." Huntingtons Fazit aus dieser Erkenntnis lautet: "Die Zweiteilung der Menschheit aus der Zeit des Kalten Krieges ist vorbei. Die fundamentaleren Spaltungen der Menschheit nach Ethnien, Religionen und Kulturkreisen bleiben und erzeugen neue Konflikte."

Deutlich ablesbar ist die weltweite politische Diversifizierung an der rasant wachsenden Zahl eigener Staaten, die sich in der Zahl der UNO-Mitgliedsländer widerspiegelt: Im Jahre 1945 wurden die Vereinten Nationen von 51 Staaten gegründet, 1960 gehörten dem Zusammenschluß 100 Staaten an, 1984 waren es bereits 159 und 1993 – also nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums – schließlich 184. Etliche Politikwissenschaftler gehen für die kommenden Jahrzehnte von einer weiteren starken Vermehrung von Staatsbildungen aus und verweisen dabei zum Beispiel auf die Sezessionstendenzen in verschiedenen Gebieten der Russischen Föderation. So prophezeit der Politologe Naisbitt die künftige Existenz von rund 1.000 Staaten, und der US-Außenminister Warren Christopher glaubte 1993 sogar, vor einer Welt aus "5.000 Staaten" warnen zu müssen, falls ethnische Auseinandersetzungen und nationale Emanzipationsbewegungen nicht wirksam "eingedämmt" werden könnten. Dabei dürften die meisten staatlichen Neubildungen zwar kaum ohne Blutvergießen ablaufen, und dennoch könnten sie sich – vor allem in dem bis heute unter den Kolonialgrenzen leidenden Afrika – langfristig als Stabilisierung und Befriedung latent unruhiger Regionen erweisen.

Die Euro-Ideologie verdeckt nicht zuletzt in Europa vielfach die zeitgleich zu den vereinheitlichenden ökonomischen Tendenzen verlaufende politische Diversifizierung auf ethnisch-kultureller Grundlage, die zugleich stets auch eine Demokratisierung bedeutet. Die wirtschaftlichen Interessen müssen dabei keineswegs immer einen Widerspruch darstellen. Dies betonte am Beispiel Flanderns der Geschäftsführer der wöchentlich erscheinenden Wirtschaftszeitschrift Trends, Frans Crols, in einem am 14. Februar veröffentlichten Interview mit der Gazet Van Antwerpen. Crols nennt die Beispiele Schottland, Katalonien und Québec, die zeigen würden, daß ökonomische Zielsetzungen Forderungen nach Eigenstaatlichkeit massiv verstärken könnten. Für seine Heimat folgert er: "Nur in einem unabhängigen Flandern können wir eine moderne sozialwirtschaftliche Politik durchführen. Wir sollten keine Angst haben! Viele neue Staaten sind uns in den letzten Jahren in dieser Entwicklung vorangegangen."Auf den häufig genannten Einwand, "zu kleine" Staaten seien ökonomisch nicht lebensfähig, entgegnet er: "Von dem Moment an, da ein Staat in der Lage ist, in einer Freihandelszone zu überleben, ist es eigentlich völlig unwichtig, ob er sechs oder 20 Millionen Einwohner zählt, weil er wirtschaftlich in einem größeren Ganzen wirksam ist. (...) Für Flandern ist es egal, ob es innerhalb Belgiens existiert oder direkt innerhalb der Europäischen Union."

Nicht nur kulturell, sondern auch im sozial-ökonomischen Bereich befinden sich Wallonen und Flamen, so der Wirtschaftsfachmann Crols, einfach nicht auf der gleichen Wellenlänge. Zwei in sich ungleich homogenere Staaten erscheinen vor diesem Hintergrund in jeder Hinsicht als ein Fortschritt gegenüber der belgischen "Totalblockade".

Crols weist in seinem Gespräch mit der in 120.000 Exemplaren erscheinenden Antwerpener Zeitung nicht zuletzt darauf hin, daß es auch im Hinblick auf die Unternehmenslandschaft zwar viele Megafusionen – etwa im Bankensektor – gebe, aber daß zugleich auch zahlreiche Defusionen stattfänden, das heißt, daß größere Betriebe in übersichtlichere und effizienter zu führende Unternehmen aufgeteilt würden. Generell erscheine ihm, so bilanziert der Flame Crols seine Ausführungen, der vielgescholtene "Separatismus" als eine "zu verteidigende und schöne Äußerung autonomer Denkkraft".


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen