© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/98 05. Juni 1998

 
 
Historisches Schiffsunglück: Der Priester stieg nicht ins Rettungsboot
Ein Bayer auf der Titanic
von Ilse Meuter

Der aktuelle Hollywood-Schinken über den Untergang des britischen Luxusliners "Titanic" hat von allen Streifen am wenigsten mit den tatsächlichen Ereignissen zu tun. In sattsam bekannter Manier wird aus einer Tragödie eine rührselig verschnulzte Seifenopfer; man verleiht sich gleich elf Oscars für eine dürftige Story, die Liebe zwischen einer Millionärsgöre und dem armen Kunstmaler. Knutscherei vor Polarnacht, der Mythos dient als Staffage.

Tatsächlich holte sich in der Nacht zum 15. April 1912 der auf Jungfernfahrt befindliche riesige Vergnügungsdampfer ein Mordsleck bei der Kollision mit einem Eisberg. Es war sehr groß und lag unter der Wasserlinie, so daß es keine Rettung gab: Binnen drei Stunden sank der Pott und riß von den 2201 Menschen an Bord mehr als 1500 mit in sein nasses Grab. 1985 wurde das Wrack vor der Küste Neufundlands in 3800 Meter Tiefe entdeckt. Es wird berichtet, daß man oberhalb der Tauchlinie in Riesenlettern lesen konnte: "Weder Gott noch der Papst!", und auf der anderen Seite: "Weder die Erde noch der Himmel können dich verschlingen". Obwohl die Aufschriften mit Lack überstrichen worden waren, kamen sie größtenteils wieder zum Vorschein. Es scheint, als ob die Nemesis diesen Übermut gerächt hat.

Eine Geschichte, die man nicht hätte erfinden müssen, fehlt in David Camerons Zelluloidepos: die des bayerischen Benediktinerpaters Josef Peruschitz. Gemeinsam mit dem englischen Priester Thomas Byles verzichtete er darauf, in eines der überfüllten Rettungsboote zu gehen; stattdessen begann er, die verzweifelten Passagiere zu beruhigen und zu trösten, um am Ende mit ihnen zu beten, während das Schiff unaufhaltsam sank.

Die Mannschaft wollte dem 41jährigen aus der Benediktinerabtei Scheyern einen Platz in den Beibooten freihalten; der hatte die Überfahrt gebucht, um im US-Bundesstaat Minnesota ein katholisches Gymnasium aufzubauen. Josef Benedikt Peruschitz wurde 1871 in Straßlach bei Wolfratshausen geboren und 1895 zum Priester geweiht. Für 155 Goldmark buchte er seine Titanic-Fahrt über den Atlantik, bescheiden in der dritten Klasse, für einen Ordensmann damals selbstverständlich. Am 8. April legte der Koloß im Hafen des britischen Southhampton Richtung New York ab, niemand rechnete mit einer Katastrophe.

Eine Woche später, am 14. April, feiert man in den Bars des Luxusdecks; elegant gekleidete Passagiere betrachten den endlosen Sternenhimmel – während etliche Stockwerke tiefer, im Maschinenraum, die eiskalten Wassermassen bereits hereinströmen. Wenig später wird die Lage bekannt, Panik bricht aus. Die Mannschaft bringt Ordnung in das Chaos, gibt Rettungsringe und Schwimmwesten aus, verteilt Frauen und Kinder in die wenigen Boote. Der Benediktiner aus Bayern soll als einziger Mann mit. "Das hat er sofort abgelehnt", berichtet ein Überlebender in den Untersuchungsprotokollen, "und dafür seinen Sitz einer Mutter mit ihrem kleinen Sohn überlassen." Pater Peruschitz blieb aus freien Stücken auf dem sterbenden Schiff und eilte mit erhobenem Kreuz von Kabine zu Kabine, segnete und tröste die verängstigten ratlosen Menschen.

Während die Bordkapelle ein letztes Mal den Choral "Näher mein Gott zu Dir" intonierte, ging der deutsche Geistliche mit den vielen Todgeweihten unter: "Etwa hundert Personen – Katholiken, Protestanten und Juden – umgaben am Ende kniend die beiden Priester. Eine große Zahl von Menschenkniet auf eine stumme Übereinkunft nieder und fängt an, das "‘Vaterunser’ zu beten", schrieb die überlebende Agnes Mac Coy, Ärtzin aus dem New Yorker Vinzenz-Krankenhaus in einer US-Zeitung; der zweite war Reverend Byles, Sohn eines britischen Ministers, der zur Trauung seines Bruder nach Nordamerika reisen wollte.

Peruschitz und Byles aber bewegen – so Agnes Mac Coy – die todgeweihten Zurückbleibenden dazu, ihre Sünden zu bereuen und sich auf den Tod vorzubereiten. Abwechselnd beten sie den Rosenkranz vor, die Menge antwortet in vielen Sprachen.

Schnell ging es dem Ende entgegen; um zwei Uhr nachts weist der leitende Offizier Charles H. Lightroll seine Mannschaft an, vor dem letzten Rettungsboot eine Kette zu bilden, um die Anderthalbtausend daran zu hindern, die knapp fünfzig Personen fassende Nußschale zu stürmen. Die Kapelle intoniert wohl zum zwanzigsten Mal den Choral, das letzte Rettungsboot ist zu Wasser gelassen, viele Passagiere knien nieder, mehr oder weniger gefaßt, und beten mit lauter Stimme. 160 Minuten sind seit der Kollision mit dem tückischen Eis vergangen, da erlöschen die Bordlichter endgültig. Der riesige Dampfer rauscht unter großem Getöse abwärts, Pater Peruschitz und Reverend Byles erteilen die Generalabsolution. "Als das letzte Boot herabgelassen war", so berichtet die New Yorker Zeitschrift America, "sahen die Insassen ganz deutlich, wie die beiden Priester den Rosenkranz vorbeteten, und hörten, wie eine große Anzahl knieender Passagiere in inbrünstigem Gebet antwortete. Dann erloschen die Lichter der Titanic, so daß man nichts mehr sehen konnte".

"Viele der 750 Geretteten", schrieb später die Londoner Times, "sahen von ihren Booten aus, wie das steil aufragende Heck in der Tiefe verschwand. Sie sprechen von einem unvergeßlichen Anblick: zwei Priester sind mit segnend erhobenen Händen inmitten einer betenden Schar untergegangen."

Bevor das Schiff völlig versank, hörte man noch ein Krachen. Unten im Schiffsraum, wo die Maschinisten und Heizer auf ihrem Posten standen, barsten die Kessel, weil das Wasser eindrang. Es war das Zeichen zum Sterben. Die Titanic war in zwei Teile zerrissen. Ihr mächtiges Heck hob sich gerade auf aus dem Wasser und reckte sich gleich einem drohenden schwarzen Finger in die Finsternis. Dann senkte sich der Bug; und ganz ruhig, ohne großes Brausen des Wassers, tauchte das ungeheure Schiff unter im dunklen Meer und verschwand für immer.

Das bewegende Schicksal des bayrischen Ordenspriesters sucht man in den mittlerweile dreitausend Titanic-Büchern vergebens; lediglich sein englischer Kollege Byles wird gelegentlich erwähnt. An den tapferen Pater erinnert nur eine steinerne Gedenkplatte im Kreuzgang des Klosters Scheyern: In Frieden, steht dort eingemeißelt, möge Josephus Peruschitz ruhen, der auf jenem Schiff Titanic sein Leben gläubig hingab: "qui in nava ista Titanica die 15.IV.1912 pie se devovit".


 
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