© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/98 05. Juni 1998

 
 
Kolumne
Kleinere Übel
Von Heinrich Lummer

Immer wieder ist zu hören, Politik verderbe den Charakter. Es wird der Eindruck vermittelt, man könne in anderen Berufen eher seine Unschuld bewahren und unangefochten den Prinzipien der Ethik dienen. Diese Auffassung erscheint mir in mehrfacher Hinsicht zweifelhaft, wenn nicht gar falsch. Ich bin fest davon überzeugt, daß man in der Politik unangefochtener bestehen kann als zum Beispiel in der Bauwirtschaft. Richtig ist natürlich, daß ein Politiker vielfachem Druck ausgesetzt ist. Er braucht ein gerüttelt Maß Standfestigkeit, um bestehen zu können. Denn allen kann er es nicht recht machen. Die Versuchung ist dann groß, wenn man um die Gunst möglichst vieler Wähler ständig Versprechungen macht. Man muß lernen, nein zu sagen, wenn Unbilliges gefordert wird. Insofern können in der Politik nur solche bestehen, die einen relativ starken Charakter haben. Dann verdirbt nicht die Politik den Charakter, sondern schwache Charaktere verderben die Politik.

Zweifellos ist die Teilhabe an der Macht für manche eine Versuchung. Vielleicht treibt gerade diese Versuchung der Macht manche in die Politik. Insofern erscheint die Befürchtung nicht unbegründet, daß bestimmte Charaktere, die davon träumen, am Rad der Geschichte mitzudrehen oder Macht über andere ausüben zu können, eher die Neigung entwickeln, die Politik zum Beruf werden zu lassen. Danach würde aber auch nicht die Politik den Charakter verderben, wohl aber würde die Politik in diesem Falle eher zweifelhafte Charaktere anziehen.

Daneben gibt es eine wirklich grundsätzliche Problematik, die den Politiker immer wieder in schwierige Situationen bringt und es ihm unmöglich macht, "schmutzige Hände" zu vermeiden. Er kann sich vor Entscheidungen oft nicht drücken. Auch dann nicht, wenn er zwischen zwei Übeln zu wählen hat. Ein Beispiel: Am 23. August 1961 – zehn Tage nach dem Bau der Mauer – ließ Ost-Berlin auf zwei S-Bahnhöfen in West-Berlin Stellen einrichten, wo Passierscheine zum Betreten Ost-Berlins gekauft werden konnten. Der Senat stand vor einer schwierigen Frage. Das Schließen der Stellen bedeutete die Zerstörung eines Stückes Menschlichkeit. Verwandte und Freunde konnten sich nicht sehen. Die Zulassung der Stellen bedeutete, daß Ost-Berlin Hoheitsrechte auf den S-Bahnhöfen beanspruchte und praktizierte. Jede Entscheidung war ein Übel. Politiker haben in solchen Fällen nur die Chance, das kleinere Übel zu wählen. Man muß abwägen und entscheiden. Eine solche Güterabwägung zwischen zwei Übeln ist geradezu charakteristsich für die Politik.


 
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