© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/98 05. Juni 1998

 
 
Das 7. Wave Gotik Treffen in Leipzig: Abseits von Basecaps und Maggi-T-Shirts
Schwarze Messe in Leipzig
von Gunnar Raspe

Auf geradezu perfide Art und Weise gelingt es den Werbestrategen unserer Zeit, die Generation der Sechs- bis Zwölfjährigen mit Blick auf aktuelle oder zukünftige Absatzmärkte in Beschlag zu nehmen. Nach der Anheizung der diffusen Begeisterungsfähigkeit von Kindern werden selbige schließlich zu werbetechnischen Selbstläufern. Am vergangenen Pfingstwochenende konnte man in der Messestadt Leipzig die jüngste Innovation dieses segensreichen Prozesses beäugen: Auf den Leipziger "Kids-Days" debütierte das "Kid" an sich als Werbeträger. Anders kann die Verunstaltung des Nachwuchses via Werbegeschenk, sei es das Maggi-T-Shirt oder die Sachsen-Quelle-Basecap, wie man es in der Leipziger Fußgängerzone beobachten konnte, wohl kaum noch gedeutet werden.

In der selben Stadt, nur wenige Kilometer weiter südlich, fand gleichzeitig eine andere Generation zusammen, die von sich behauptet, solch schnöder kommerzieller Vereinnahmung schlichtweg abhold zu sein. Mag in der unbeteiligten Öffentlichkeit auch bisweilen genau der entgegengesetzte Eindruck entstehen: Die Gothic-Szene versteht sich (auch mit ihrem eigenen Outfit) als Gegenkultur zu der oben beschriebenen ästhetischen Verschandelung unserer Lebensumwelt. Statt Uniformität und Produktbotschaft soll das Äußere der "Go-thics", "Gruftis" oder wie immer man sie nennen mag, vielmehr Individualität und bewußte Gruppenidentifikation signalisieren.

Gerade jener hohe Grad von Identifikation zeichnet diese Szene und besonders ihre Selbstdarstellung in Leipzig aus: Auf keinem herkömmlichen Musik-Festival wird ein vergleichbares, weit über die Musik hinausgehendes Programm geboten, das dem Besucher, trotz der Größe des Festivals, eine so individuelle Auseinandersetzung mit einer ebenso illustren wie bizarren Themenpalette erlaubt, zu der Zeitepochen wie das Mittelalter oder die Romantik ebenso gehören wie die S/M- oder Industrial-Szene.

Das diesjährige "7. Wave-Gotik-Treffen" wuchs einerseits durch die Detailversessenheit der Veranstalter, andererseits mit den mutmaßlich über 10.000 Besuchern wahrlich über den Rahmen alles bisher Üblichen (und über die Erwartungen der Veranstalter) hinaus. Das Festival ist auf bestem Wege, sich zu einer Art Messe des "Schwarzen Szene" zu mausern.

Alles zu besuchen, was einen interessierte, war dieses Jahr jedenfalls illusorisch: Rund um den Stadtteil Connewitz fanden allein über 70 Konzerte statt. Zahlreiche Discos, Ausstellungen, ein Mittelaltermarkt, Lesungen, Kino-Vorführungen, ein Arbeitskreis über Astrologie, einer über Reinkarnation und vieles mehr warben um die Gunst der Besucher, die sich gegenüber solcher Vielfalt fast schon überfordert fühlten. Zu den bleibenden Erinnerungen gehören die vielen eindrucksvollen Konzerte, etwa der Auftritt des Neoklassik-Ensembles des britischen Sängers Tony Wakeford in der Krypta des Völkerschlachtdenkmals, die Performance des skandinavischen Projekts Ordo Equilibro in der Moritzbastei oder das Konzert des Mittelalterprojekts Sarband in der Michaeliskirche. Immer wieder rief diese Vielfalt aber das ungute Gefühl hervor, gerade etwas anderes verpaßt zu haben


 
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