© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/98 12. Juni 1998

 
 
Pankraz, "Boogie Nights" und das Geschäft der Pornoindustrie

Ein grotesker Hollywood-Film geistert zur Zeit durch die Kinos: "Boogie Nights", den "goldenen Zeiten" des Pornofilms in den siebziger Jahren gewidmet, gedreht von einem jungen Mann, der dieser Ära voller Neid hinterhertrauert und ihr "ein Denkmal" setzen möchte. Damals, so sehen wir bei ihm, waren die Pornoproduzenten noch keine miesen Geschäftemacher, sondern ernsthafte Künstler und wahre Gentlemen, die die Befreiung der Gesellschaft von Muff und Repression und den Durchbruch zur Lässigkeit und Schönheit auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Alles bei ihnen rollte gediegen und in prachtvoller Solidarität ab, und in den Drehpausen gab es heitere Partys mit toller Musik, ein wahres Arkadien, eine "Utopie", wie sie im Buche steht.

Irgendwas in den Achtzigern ging dann schief, und die Szene versank in Aids und Kokain und Korruption. Aber die "Idee" des Ganzen, so wird dem Zuschauer suggeriert, war gut und kann von dem, was nachher kam, nicht dementiert werden. Beeindruckt schrieb der FAZ-Kritiker über die Schlußsequenz des Werkes: "Diggler" (der Hauptdarsteller) "öffnet seine Hose und entblößt sein Geschlechtsteil. Dem Film gelingt es, diesen Moment zu einem Augenblick voller Schönheit, Scham und Würde zu machen, und er läßt den Zuschauer damit an einem kleinen Wunder teilhaben."

Pankraz muß gestehen, daß er leider nicht von diesem Wunder berührt wurde. Er sah nichts weiter als einen riesigen Schwanz, und er wurde dabei zwar von einem Gefühl der Beschämung, der Verletzung seiner Scham, befallen, aber keineswegs in Würde erhoben. Und das Mädchen, das mit ihm zusammen den Film angesehen hatte, sagte ärgerlich: "So ein Quatsch müßte eigentlich verboten werden. Oder wenigstens in die Videotheken oder ins Fernsehen verbannt. Weshalb müssen wir uns so etwas jetzt auch noch im großen Kino anschauen?"

Heute geht es in Sachen Porno eben nicht mehr um Verklärung und nachträgliche Ideologisierung, sondern um realistische Analyse. Der "schöne, befreiende" Pornofilm ist nicht, wie es in "Boogie Nights" so melodramatisch dargestellt wird, durch mehr oder weniger zufällige Ereignisse à la Aids auf tragische Weise kaputtgegangen, sondern er hat sich nach streng logischen Geschäftsprinzipien zu einer riesigen Industrie ausgeweitet. Die "Pioniere" der Anfangszeit haben sich in kalkulierende Tycoons verwandelt, bzw. wurden von ihnen abgelöst, und aus aparter Neuheit wurde Alltagsroutine. So ist der Lauf der freien, permissiven Welt.

In den Videotheken liegt inzwischen fast jede Art von Porno herum: Massensex und Homosex, Sex von hinten und Sex von vorn, Sado-Maso-Sex und (zumindest in Dänemark) Sex mit Tieren, Sex buchstäblich in allen Lebenslagen. Zwar gibt es noch Gesetze gegen Sex mit Minderjährigen und gegen Gewaltsex, doch die Grenzen sind äußerst fließend, und sie werden von der Industrie immer fließender gemacht. "Beischlaf als Vergewaltigung ist auf den Kassetten längst die Regel", urteilte kürzlich ein Angestellter der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften.

Es soll keine Gewalt geben, sagt das Gesetz. Nun, ein per Sado-Maso blutig geschlagener Rücken darf ohne weiteres verkauft werden; bald werden auch auf Bretter genagelte Frauenbrüste in den Handel kommen, ohne daß der Staatsanwalt einzuschreiten wagt oder auch nur etwas davon mitbekommt. Wer kontrolliert auch schon in den Agenturen und Studios, ob jemand achtzehn oder vielleicht nur sechzehn Jahre alt ist und damit unter den Jugendschutz fällt! Das Gros der Darsteller stammt sowieso aus den Ländern des ehemaligen Ostblocks, wo man noch billig und völlig unbehelligt produzieren kann.

Angesichts dieser Wirklichkeit wirkt "Boogie Nights" verlogen und obszön wie ein sowjetischer Propagandafilm über die "heroischen" Tage der Oktoberrevolution von 1917 oder ein TV-Film über Rudi Dutschke als "Idol der Jugendrevolte" im Jahre 1968. Man durchschaut wieder einmal die Dialektik solcher "Befreiungen": Eine Sache geriert sich am Anfang als Verfeinerung des Lebens – und trägt doch bereits, hinter Phrasen und bunten Bildern versteckt, die Fratze der Vergröberung, des In-die-Fresse-Schlagens, der blanken Unmenschlichkeit.

Pornographie war schon immer, auch in ihren "feinsten" Manifestationen, ein Instrument der Vergröberung, der Entsublimierung. Natürlich ist sie – als Surrogat, als Lebensersatz – unausrottbar, aber alle guten Gesellschaften haben sie wohlweislich unterm Ladentisch und in der Halbillegalität belassen – weil sie genau wußten, daß sie, exzessiv genutzt, zur narzistischen Verarmung der Menschen führt, zur Abtötung der Scham, zur Verdinglichung und zur Abschaffung des guten Geschmacks.

Die Macher von "Boogie Nights" wissen dergleichen nicht mehr, und so fallen sie, trotz ihres Luxus-Getues, auf die Seite der Popligen und Geschmacklosen, heben sich allenfalls graduell vom Mainstream der modernen westlichen "Erotik-Kultur" ab. Das Fatale an solchen Produkten ist, daß gerade sie es sind, die den allgegenwärtigen Druck auf die noch verbliebenen schamhaften und geschmackvollen Künstler verstärken.

Bald getraut sich keiner von denen mehr, ein Manuskript ohne diverse "Stellen" beim Verlag abzuliefern, bald befleißigen auch sie sich durch die Bank jener Supergrobheit und Gemeinheit, die beim öffentlichen Sprechen über Sex üblich geworden ist. Eine allgemeine Entsublimierung der Kultur setzt ein, wie sie Sigmund Freud schon vor hundert Jahren als sicheres Indiz der "Dekadenz", der Verblödung und des sozialen Niedergangs diagnostiziert hat.

Winkt eventuell Rettung von irgendwoher? Bei den Jugendlichen wächst angeblich, liest Pankraz hier und da, das Bedürfnis nach "neuer Romantik" in Sexdingen. Die Geschäfte der Pornoindustrie aber florieren noch.


 
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