© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/98 19. Juni 1998

 
 
Bosnien-Herzegowina: Flüchtlingspolitik in der Sackgasse
Wunsch und Wirklichkeit
von Götz Kubitschek

In den letzten Wochen ist der Balkan als Konfliktgebiet noch stärker ins Bewußtsein der Öffentlichkeit getreten. Mit aller Macht versucht die serbische Politik, in der albanisch besiedelten Provinz Kosovo ethnische Gegebenheiten und Mehrheitsverhältnisse zu verändern. Staatlich organisierter oder wenigstens geduldeter Druck hat schon Zigtausende Albaner dazu getrieben, ihre Heimatdörfer im Kosovo aufzugeben und ins Mutterland Albanien oder nach Montenegro, Mazedonien oder Italien umzusiedeln.

Das Konfliktpotential des Kosovo ist seit langem bekannt, und Kenner der Region und des Krieges im ehemaligen Jugoslawien wiesen über Jahre hinweg auf die Unterdrückung der dort lebenden Albaner hin. Seltsamerweise haben aber erst die jüngsten massiven offenen Menschenrechtsverletzungen, begangen von regulären und milizähnlichen serbischen Streitkräften, die europäische Öffentlichkeit alarmiert. Mit den Bildern von den ersten Toten, exhumiert aus einem Massengrab am Rande eines kleinen Ortes, setzte eine ausführliche Berichterstattung über das Kosovo und die Zielsetzungen serbischer Politik ein.

Man kann hier eine Parallele ziehen zum Krieg in Bosnien und zum Sommer 1992. Damals häuften sich die Berichte über schwere Kriegsverbrechen in Bosnien; von Vertreibungen, Konzentrationslagern, Massenvergewaltigungen und Erschießungen war die Rede, und Bilder von abgemagerten Häftlingen unterstützten die schockierenden Berichte. Der vom politischen und militärischen Blickwinkel aus bis dahin nie intensiver wahrgenommene Krieg rückte schlagartig in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit: Erst die menschliche Ebene der Zivilbevölkerung, die Ebene der Opfer, löste breites Interesse am Kriegsverlauf sowie an der Art und den Zielen der Kriegsführung aus. Der relativ neue Begriff der "ethnischen Säuberung" wurde zu einem Schlüsselwort.

Im Zentrum deutscher Berichterstattung stand rasch die ungeheure Zahl an Flüchtlingen, die dieser Krieg in Bewegung setzte. Schätzungen zufolge kann man von 1,2 Millionen Flüchtlingen ausgehen, die ins Ausland geflohen sind. Hinzu kommt etwa 1 Million sogenannter Binnenflüchtlinge, die innerhalb Bosniens an einen anderen Ort zogen. Deutschland steht an der Spitze der drei Hauptaufnahmeländer (mit rund 320.000), gefolgt von der Bundesrepublik Jugoslawien (260.000) und Kroatien (160.000).

Rückkehrpflicht erzwingt realistische Flüchtlingspolitik

Die Gründe dafür liegen zum einen in der unkomplizierten, schnell erteilten Einreisegenehmigung, zum anderen in der Tatsache, daß in Deutschland eine große Zahl von Gastarbeitern darauf drängte, die Verwandten und Landsleute aufzunehmen. Erst neulich bemängelte ein Sprecher des Flüchtlingswerkes der Vereinten Nationen (UNHCR), Deutschland sei das einzige Land, das für Flüchtlinge aus Bosnien eine Rückkehrpflicht eingeführt habe. Deutschland kann gegen solche Kritik das Argument ins Feld führen, andere Länder müßten angesichts ihrer minimalen Flüchtlingskontingente auch gar nicht über eine Rückkehrpflicht nachdenken. An einer solchen Pflicht muß die deutsche Politik auf alle Fälle festhalten, denn diese zwingt Bosnien und die internationale Gemeinschaft, eine realistische Art der Flüchtlingsrückkehr durchzusetzen und sich nicht Wunschträumen hinzugeben.

Am 21. November 1995 unterzeichneten die Kriegsparteien im US-amerikanischen Dayton einen Vertrag, der die Grundlagen einer Nachkriegsordnung in Bosnien festlegte. Darin ist die Freizügigkeit für alle Bosnier im gesamten bosnischen Territorium festgeschrieben. Ebenso enthält das Abkommen einen Artikel, der allen Flüchtlingen das Recht garantiert, in ihre Heimatorte zurückzukehren. Dieser Passus orientiert sich an dem Grundsatz eines "Rechtes auf Heimat". Deutsche Vertriebenenverbände haben wiederholt gefordert, man solle ein solches Recht in den Völkerrechtskatalog der Vereinten Nationen aufnehmen. An Fragen des Heimatrechtes und des Vertreibungsunrechtes kamen die internationalen Vermittler in Bosnien nicht vorbei. Zu offensichtlich wurde der bosnische Bürgerkrieg nach Kriterien einer ethnischen Freund-Feind-Bestimmung geführt: Die Eroberung eines Gebietes war mit seiner militärischen Besetzung nicht beendet. Gebietsgewinne sollten gefestigt werden, indem Angehörige anderer Volksgruppen vertrieben wurden. In der internationalen Bewertung dieser Vorgänge setzte sich der Grundsatz durch: "Vertreibung darf sich nicht lohnen."

Im Vertrag von Dayton forderten die Kriegsparteien das UNHCR auf, einen Rückkehrplan vorzulegen. Dieser sollte "eine rechtzeitige, friedliche, geordnete und abgestufte Rückkehr der Flüchtlinge und Vertriebenen" gewährleisten. Natürlich mußten sich die Kriegsparteien auch bereit erklären, diesen Plan umzusetzen. Das UNHCR legte den Repatriierungsplan im März 1996 vor. Darin sind Rahmenbedingungen für die Rückkehr von rund zwei Millionen Flüchtlingen beschrieben. Der Plan sollte bis Ende ’97 umgesetzt sein, es wurde aber bald deutlich, daß bis zu dieser Zeit nur ein kleiner Teil der Vertriebenen zurückkehren würde.

Für die Diskussion um Rückkehrpflicht und freiwillige Rückkehrmöglichkeiten ist eine Beurteilung der Lage vor Ort notwendig. Die Regionen, aus denen die Menschen zu Tausenden geflohen sind, stehen einer nahtlosen Rückkehr nicht ohne weiteres offen. Ganze Landstriche sind planmäßig und gründlich zerstört worden. Viele Dörfer bestehen nur noch aus Ruinen. Dabei läßt sich oft nicht unterscheiden, wer die Verwüstungen angerichtet hat. Die Anzahl der Häuser, die durch Kriegshandlungen zerstört wurden, ist nur in den heftig umkämpften Städten groß. Auf dem Lande herrscht planmäßige Zerstörung vor. Sie geht nur teilweise auf das Konto der Eroberer, die durch zerstörten Wohnraum und unbrauchbare Infrastruktur die Rückkehr der Vertriebenen verhindern wollten.

Oft hat die zurückweichende Armee in Zusammenarbeit mit der fliehenden Bevölkerung Häuser zerstört und vermint und so für den nachrückenden Feind und etwaige neue Bewohner unbenutzbar gemacht. Dabei wurden beispielsweise Gashähne aufgedreht; das Gas füllte das Haus und erreichte schließlich eine Kerze, die im Obergeschoß aufgestellt war. Die Explosion zerstörte das Haus vollständig, ganze Täler sind mit solchen Brandruinen durchsetzt.

Vermintes Gelände und verminte Gebäude sind neben den Zerstörungen der Hauptgrund dafür, daß Flüchtlinge nicht in ihre Heimatdörfer zurückkehren können, selbst wenn es auf der politischen und ethnischen Ebene keine Probleme gäbe. Bei einer Fahrt durch Hauptkampfgebiete in Bosnien kann man kilometerlang markiertes Gebiet sehen, in dem Tausende von Minen verborgen liegen. Meistens weiß niemand mehr, wer wo welchen Minentyp verlegt hat. Ein Auffinden und Entschärfen wird von Jahr zu Jahr schwieriger, weil die Minen buchstäblich mit ihrer Umgebung verwachsen.

Neben diesen materiellen Größen stehen einer Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Heimatdörfer vor allem politische und psychologische Faktoren entgegen. Die Kriegsparteien haben sich zwar verpflichtet, die Rückkehr zu fördern und den Plan des UNHCR umzusetzen. Vor Ort bleibt diese Verpflichtung aber Papier. Man kann grob zwei Gruppen von Flüchtlingen unterscheiden: Der überwiegende Teil, der bisher zurückgekehrt ist, hat sich in Gebieten niedergelassen, die vom eigenen Volk dominiert werden. Sie stoßen auf eine Situation, in der die eigene Ethnie die Mehrheit stellt. Die andere Gruppe möchte in Heimatregionen zurück, in denen sie – ethnisch gesehen – der Minderheit angehören. Sie war das entweder bereits vor dem Krieg oder ist es erst durch den Verlauf der Vertreibung geworden. Dieser zweiten Gruppe kommt eine Schlüsselfunktion zu: Am Erfolg oder Mißerfolg ihrer Rückkehr läßt sich ablesen, ob es die Kriegsparteien mit ihrer Verpflichtung ernst meinen, Bosnien als Vielvölkerstaat anzuerkennen und die Volkszugehörigkeit nicht als Freund-Feind-Kriterium zu benutzen.

Das Beseitigen der Minen wird immer schwieriger

Die Wirklichkeit spricht für das Scheitern der UN-Politik in diesem Punkt. Viele Hilfsorganisationen haben Siedlungen für Flüchtlinge aufgebaut oder leicht zerstörte Bausubstanz renoviert. Häufig wurden solche bezugsfertigen Gebäude kurz vor dem Eintreffen der Flüchtlinge von der örtlichen Bevölkerung zerstört, in Brand gesteckt oder besetzt. Dabei ist es schwierig zu unterscheiden, ob es sich um spontanen örtlichen Zorn und Neid handelte oder ob der Widerstand organisiert und "von oben" befohlen ablief. Erfolgten die Zerstörungen nicht vor dem Eintreffen der Flüchtlinge, kam es teilweise beim Eintreffen der Busse zu gewalttätigen Ausschreitungen, und nicht selten waren die Neuankömmlinge nicht mehr dazu zu bewegen, auszusteigen und ihre neuen Wohnungen zu beziehen. Doch selbst wenn dieser Schritt noch gelang, so ist es für die internationale Polizei und für die Friedenstruppe nicht möglich, über Wochen und Monate den Schutz der neuen Siedlungen zu garantieren und Repressalien der Mehrheit zu verhindern.

Besonders konfliktträchtig gerät die Situation, wenn Flüchtlinge verschiedener ethnischer Herkunft aufeinandertreffen. Das Erlebte und Durchgestandene, der Verlust von Angehörigen und Freunden lebt angesichts der anderen Volksgruppe wieder auf. Das eigene Haus wurde aufgegeben, die Familie hat sich in einer neuen Region niedergelassen, in der das eigene Volk in der Mehrheit ist. – Nun kommt der Flüchtling und fordert "sein" Haus zurück.

Natürlich hat es wenig Sinn, Vertriebene gegen ihren Willen in ihre Heimatdörfer zurückzulotsen. Aber auch die Eingliederung der Flüchtlinge in Regionen mit einer Mehrheit des eigenen Volkes bringt Probleme mit sich: Von vielen Bosniern, die nicht geflohen sind, werden die Rückkehrer als Feiglinge angesehen, denen die Erfahrung eines vierjährigen Verteidigungskampfes fehlt. Außerdem kommen gerade die Flüchtlinge aus Deutschland mit einem Wohlstand zurück, der für den durchschnittlichen Bosnier derzeit unmöglich zu erreichen ist. Natürlich bauen diese Rückkehrer Zerstörtes wieder auf und kurbeln das einheimische Handwerksgewerbe und den Umsatz an Verbrauchsgütern an. Aber sie tun das in einer Geschwindigkeit, die unter den Daheimgebliebenen Neidgefühle weckt.

Insgesamt haben bisher wohl nicht mehr als 20.000 Minderheitsangehörige die Rückkehr in ihre Heimatorte gewagt. Der überwiegende Teil der zurückgekehrten Flüchtlinge (400.000) hat sich in Gebieten niedergelassen, in denen das eigene Volk die Mehrheit stellt. Diese Entwicklung festigt die Trennung der drei großen bosnischen Volksgruppen und bestätigt im nachhinein die Politik der ethnischen Säuberung. Eine solche Tendenz weist auf das Schreckgespenst der internationalen Bosnienpolitik hin: Bosnien zerbricht auch territorial, der kroatische und der serbische Teil schließen sich ihren "Mutterstaaten" an, und das muslimische Bosnien bleibt, kaum lebensfähig, in der Mitte zurück. Die Flüchtlingsfrage wird so zur entscheidenden Frage für den Bestand Bosniens.


 
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