© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/98 19. Juni 1998

 
 
Der 17. Juni in Görlitz: Die unbekannte Seite des Aufstandes von 1953
Stasi in den Hundezwinger
von Paul Leonhard

Die Stunde der Freiheit hat geschlagen. Görlitzer, es lebe die Juni-Revolution von 1953!" Voller Optimismus rief der alte Sozialdemokrat Max Latt diese Sätze den 35.000 Görlitzern zu, die sich am 17. Juni 1953 trotz des von den Sowjets ausgerufenen Belagerungszustandes auf dem Obermarkt der heute in Ostsachsen gelegenen niederlausitzischen Stadt versammelt hatten. Latt sollte vergeblich auf einen Sieg des Aufstandes hoffen. Seine Hoffnungen zerstoben wenig später unter den Ketten sowjetischer Panzer. Der Volksaufstand in Görlitz brach in den Abendstunden zusammen.

"Hat für uns Nachgeborene dieser Tag überhaupt noch eine Bedeutung? Ich kann mir nicht helfen, ich finde keine Beziehung zu diesem Datum. Mich bewegen gegenwärtig ganz andere Probleme", schreibt vierzig Jahre später ein Leser im Dresdner Kurier. Mit dieser Meinung steht er nicht allein da. Schließlich galt der 17. Juni 1953 in der DDR jahrzehntelang als faschistischer Putschversuch. Die wahren Hintergründe wurden verschwiegen. Auch das Selbstbewußtsein der Görlitzer Bevölkerung wich nach der Niederschlagung des Aufstandes, "als die Jagd nach den Aufständischen einsetzte und die ersten hohen Zuchthausstrafen für die Beteiligung an Protestaktionen verhängt wurden, allmählich der Trauer, zunehmender Zurückhaltung und später der Resignation", konstatiert Heidi Roth in ihrer in diesen Tagen im Lusatia-Verlag Bautzen erscheinenden Schrift "Der 17. Juni 1953 in Görlitz".

Bis 1989 fand sich in der SED-Geschichtsschreibung kein Hinweis zu Arbeitsniederlegungen und Straßendemonstrationen in Görlitz und Umgebung. Keiner der Beteiligten durfte bis dahin über die Ereignisse sprechen. Dabei war Görlitz einer der Brennpunkte der Erhebung. Nur an wenigen Orten verliefen die Auseinandersetzungen zwischen Volk und Macht so stürmisch wie in und um Görlitz. In keiner anderen größeren Stadt gelang es dem Volk, den Macht- und Disziplinierungsapparat derart lahmzulegen. Nirgends war die Erhebung gegen die SED so rasch erfolgreich wie im Raum Görlitz. Überdies bildete sich in wenigen Stunden ein breites sozial-, politisch- und generationenübergreifendes Bündnis. Arbeiter, Angestellte und technische Intelligenz marschierten gemeinsam ins Stadtzentrum. Ihnen schlossen sich Verkäuferinnen, Handwerker, Gewerbetreibende, Hausfrauen, Rentner, Schüler, Lehrer und Privatunternehmer an.

In Westdeutschland beschäftigten sich zwar Historiker mit dem Aufstand, der "Tag der deutschen Einheit" sei aber immer mehr zum belanglosen "Badetag der Nation" verkommen, kritisiert Siegmar Faust, Sächsischer Landesbeauftragter für die Stasiunterlagen. Schuld daran seien unter anderem der Einfluß der Westarbeit des ZK der SED und die verschieden interpretierbare "Entspannungspolitik" gewesen. Für Faust ist der 17. Juni eine "gescheiterte, demokratische und nationale Revolution", die in Kürze, Intensität und Konsequenz ihresgleichen suche. Besonders bemerkenswert sei, daß die allgegenwärtige Staatsicherheit und andere "Sicherheitsorgane" 1953 genauso versagten wie bei der endlich geglückten Revolution 1989, erinnert er.

Das Beispiel Görlitz war für die SED eine besondere Niederlage. Hier wurde während des Aufstandes die Machtfrage konsequent gestellt und beantwortet. Die Protestaktionen in der seit 1945 geteilten Neißestadt stellten die Ereignisse in Berlin weit in den Schatten. In kürzester Zeit besetzte hier die Bevölkerung Rathaus, Gefängnis, MfS- und Polizeidienststelle. Aus dem Volk heraus wurden erste demokratische Gremien gebildet, der SED-Oberbürgermeister abgewählt, mehr als 400 Inhaftierte aus den Gefängnissen befreit.

Ausgehend von den Arbeitern der LOWA-Werke breitete sich der Aufstand bereits in den Morgenstunden über die gesamte Stadt aus. In der Innenstadt kam es zu einer großen Demonstration und einer Kundgebung auf dem Obermarkt mit rund 30.000 Görlitzern. Anschließend wurden die öffentlichen Gebäude erstürmt und die politischen Gefangenen befreit. Die Streikleitungen waren überbetrieblich konstituiert und übernahmen die Führung. Eine unbewaffnete Arbeitermiliz wurde gebildet. Den Aktionen der Demonstranten wurde kaum Widerstand entgegengesetzt. Einige Görlitzer SED-Funktionäre versuchten sogar, mit den Aufständischen ins Gespräch zu kommen.

Um die Mittagszeit befand sich die Stadt in den Händen der Demonstranten. Über den Stadtfunk informierten sie über die Kundgebung. Die Menschen forderten freie Wahlen, die Aufhebung der Oder-Neiße-Grenze, die Auflösung der Kasernierten Volkspolizei (KVP). Es sei den Streikenden in den Betrieben und den Demonstranten auf den Straßen und Plätzen vor allem um die Veränderung des politischen Systems gegangen, schreibt Heidi Roth. Angesichts der sich verschärfenden Wirtschaftskrise und ihrer katastrophalen Auswirkungen für die Bevölkerungsmehrheit wurde aber auch für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen demonstriert. Auch auf die benachbarte Stadt Niesky griff der Aufstand über: MfS-Mitarbeiter wurden hier kurzfristig in einen Hundezwinger gesperrt.

Heidi Roth erinnert auch an die besonderen Bedingungen in der Grenzstadt. So machten die Vertriebenen 40Prozent der Bevölkerung aus. Hoch war auch der Anteil der Rentner und Sozialhilfeempfänger. Die beiden Volkskirchen hatten großen Einfluß. Die Überwindung der Teilung der Stadt und die Rückkehr der Vertriebenen in ihre Heimat sei damals ein gemeinsames Anliegen der Görlitzer gewesen. Die Forderungen der Bevölkerung, "menschlich verständlich, doch politisch nicht realisierbar, wurden später von der SED-Führung als revanchistische Zielsetzungen gewertet". Dabei hofften die Görlitzer damals sogar, daß ihr Aufstand von den Polen durch Aktionen unterstützt würde.

Obwohl Görlitz zu diesem Zeitpunkt bereits unter Kriegsrecht stand, nahmen an der zweiten Kundgebung auf dem Obermarkt noch einmal 35.000 Menschen teil. Gegen 16 Uhr trafen schließlich die ersten militärischen Einheiten von außerhalb in Görlitz ein. 15 Minuten später beendete eine KVP-Einheit aus Löbau die Besetzung des Rathauses. Unter dem Schutz sowjetischer Soldaten zog der Oberbürgermeister wieder ein. Zwei Stunden später trafen weitere sowjetische Truppen ein und zerstreuten die Ansammlungen. Um eine Kontaktaufnahme der Görlitzer mit den Polen zu verhindern, wurden die Grenzsicherungsmaßnahmen verstärkt. Abends patroullierten Streifen mit umgehängten Maschinenpistolen und zehn T 34-Panzer durch die Stadt. Daß es trotz massiven Militäraufgebots keine Toten und Schwerverletzten gab, ist wohl einerseits dem umsichtigen Verhalten der Streikleitung zu verdanken, die zu Ruhe und Besonnenheit mahnte. Andererseits lehnte die sowjetische Kommandantur in Dresden Überlegungen der deutschen Seite ab, mit Waffengewalt vorzugehen. Offensichtlich gab es die Maßgabe der Sowjets, ein Blutvergießen möglichst zu vermeiden. Im Görlitzer Umland gab es noch in den folgenden Tagen Unruhen: In Niesky kam es am 18. Juni zu einem Aufeinandertreffen von Arbeitern und sowjetischen Truppen, die mit Warnschüssen zur Wiederaufnahme der Arbeit gezwungen werden mußten. In Görlitz und Umland wurde noch am 19. Juni gestreikt. Görlitz, so resümiert Siegmar Faust, sei für ihn ein Beispiel,


 
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