© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/98 19. Juni 1998

 
 
Das Recht der Nation
von Friedrich Romig

Bei den letzten der alle zwei Jahre stattfindenden Castelgandolfo-Gesprächen hielt der polnische Philosoph Józef Tischner einen überaus bemerkenswerten Vortrag über "Die Nation und ihre Rechte", mit dem er in das Denken Johannes Pauls II. zu diesem Thema einführte (in: K. Michalski (Hrsg.), Aufklärung heute, Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1997). Johannes Paul II. hat in seiner Ansprache vor den Vereinten Nationen im Oktober 1995 mit Nachdruck diese so vernachlässigten Rechte der Nationen eingefordert: "Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die 1948 angenommen wurde, hat ausführlich die Rechte der Persönlichkeit behandelt. Aber es gibt noch keine ähnliche internationale Vereinbarung, die angemessen die Rechte der Nationen aufgegriffen hätte". Der Papst erinnerte daran, daß der Zweite Weltkrieg mit all seinen Schrecken "wegen Verletzung der Rechte der Nationen entstanden ist", wobei er wohl an Versailles gedacht hat. Gerade in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts habe "das Streben nach Freiheit nicht nur den einzelnen Menschen, sondern auch die Nationen erfaßt". Dieses Freiheitsstreben sei nicht aufzuhalten, wie die "unblutigen Revolutionen des Jahres 1989 in Mittel- und Osteuropa" gezeigt hätten, zu denen, wenn wir dem letzten Sekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, glauben dürfen, der Papst ja selbst durch sein unbeugsames Eintreten für Gerechtigkeit und Wahrheit gegen die Lüge des Kommunismus eine wichtige Rolle gespielt hat.

Durch ihre soziale Natur sind die Menschen an bestimmte Gruppen gebunden, "vor allem an die Familie, sodann an verschiedene Gruppen der Zugehörigkeit, bis hin zum Gesamten der betreffenden ethnisch-kulturellen Gruppe, die nicht von ungefähr als ‘Nation’ bezeichnet wird, was an ‘nascere’ (geboren werden) denken läßt, während die Benennung ‘patria’ (Vaterland) an die Realität der Familie selbst erinnert", gibt der Papst zu bedenken. Wie Tischner verdeutlicht, unterscheidet der Papst die Gemeinschaft des Volkes, die Nation und das Vaterland, die für ihn in einem sich aufstufenden, logischen Zusammenhang stehen, wobei die niedrigere Form "ideomotorisch" sich auf die höhere zubewegt. Die Gemeinschaft des Volkes bezeichnet dabei wohl mehr die natürliche "Lebenswelt", den Zusammenhalt mit den Angehörigen, das Mütterliche, auch die "dionysische Dimension", die in unbändiger Lebenslust sich ausdrückt. "Im ‘Volkhaften’ ist das Erste nicht das ‘Ich’, sondern das ‘Wir’. Das ‘Ich’ kommt erst nach dem ‘Wir’", so Tischner. "Das ‘Volk’ ist ‘partikular’, an Ort und Zeit gebunden, in sich geschlossen (Anm.: also keine "offene Gesellschaft"!) und das ‘Fremde’ abstoßend, zugleich ist es der Ort, an dem sich zum ersten Mal das Universale äußert", und zwar auf sehr emotionale Weise, mit der die "Wahrheit über das Leben" auch heute wieder entdeckt wird, welche "unter dem Einfluß des Rationalismus dem Vergessen anheimfiel". Diese Wiederentdeckung des Volkes ist für Tischner "das Werk der Romantik".

Über diese emotionale Ebene des Volkhaften erhebt sich die Nation, die ganz der Sphäre der bewußt ergriffenen und bejahten Kultur angehört. Jedes Volk will zur Nation werden. In seiner bereits klassisch gewordenen Enzyklika über die menschliche Arbeit ("Laborem exercens", 1981) hat Johannes Paul II. diesen Sachverhalt eindrucksvoll beschrieben: "Die Volksgemeinschaft – auch wenn sie noch nicht die ausgereifte Form einer Nation erreicht hat – ist nicht nur die große, wenn auch mittelbare ‘Erzieherin’ jedes Menschen (da ja jeder sich in der Familie die Gehalte und Werte zu eigen macht, die in ihrer Gesamtheit die Kultur einer bestimmten Nation ausmachen), sie ist auch die große und historische Inkarnation der Arbeit aller bisherigen Generationen. All das bewirkt, daß der Mensch seine tiefste menschliche Identität mit der Zugehörigkeit zu einer Nation verbindet und seine Arbeit auch als eine mit seinen Landsleuten zusammen zu erarbeitende Mehrung des Gemeinwohls versteht und sich Rechenschaft gibt, daß auf diesem Wege die Arbeit dazu beiträgt, das Erbgut der ganzen Menschheitsfamilie … zu wahren."

Der Papst sieht also in der Nation "die ausgereifte Form der Volksgemeinschaft", die sich ihrer kulturellen Eigenart bewußt ist und als Erzieherin kulturelle Identität stiftet. Zugleich bildet sie das Bindeglied zwischen Individuum und Gemeinschaft, zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Zeit und Ewigkeit, zwischen den vergangenen, den gegenwärtigen und den künftigen Generationen und ihrer Arbeit am kulturellen Erbe, das sie "inkarniert" und damit in "Fleisch und Blut" der Angehörigen der Nation übergehen läßt. Daher gehört die Zugehörigkeit zu einer Nation, ohne die der Mensch seine kulturelle Identität nicht finden kann, zu den Grundrechten des Menschen. Die Rechte der Nationen sind daher für den Papst "nichts anderes als die auf dieser Ebene des Gemeinschaftslebens gepflegten ‘Menschenrechte’. Das Studium dieser Rechte ist gewiß nicht einfach, wenn wir bedenken, wie schwer es ist, auch nur den Begriff ‘Nation’ zu definieren, der nicht a priori und zwangsläufig mit dem Staat gleichgesetzt werden darf. Dennoch muß dieses Studium in Angriff genommen werden, wenn wir die Fehler der Vergangenheit vermeiden und der Welt eine gerechte Ordnung sichern möchten".

Der Papst ist sich der Gefahr der Übersteigerung der Idee der Nation zum Nationalismus durchaus bewußt, der anderen Nationen ihre Lebensrechte abspricht oder sie sogar mit Gewalt unterdrückt. Der Begriff der Nation hat für ihn "relationalen" Charakter, er kann nur erfaßt werden durch das, was die eigene Nation von anderen Nationen unterscheidet, aber zugleich auch mit anderen Nationen verbindet. Tischner sieht wohl ganz im Sinne des Papstes in jeder Nation eine "Persönlichkeit", die sich durch ihre Eigenart von jeder anderen Nation unterscheidet und damit abgrenzt. Nur weil sich Nationen gegenseitig abgrenzen und unterscheiden, können sie sich verbinden und ihre Autonomie auch gegenseitig respektieren. Nationen haben daher für den Papst nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten: "Die wichtigste dieser Pflichten ist sicherlich die Pflicht im Geiste des Friedens, des Respekts und der Solidarität mit anderen Nationen zu leben". Eine Nation, die danach trachtet, einer anderen Nation die Freiheit zu rauben, ist selbst nicht frei. Die gegenseitige Anerkennung ihres Rechts auf Freiheit und kulturelle Entfaltung verbindet die Nationen, und das Bewußtsein um die Stärke dieser Verbundenheit in Freiheit ist kein Zeichen der Schwäche, sondern Attribut der Vollkommenheit und der eigenen Souveränität. Daher steht, wie der Papst unmißverständlich festhält, an erster Stelle des Rechts der Nationen das Recht auf ihre Existenz: "Vorbedingung für alle anderen Rechte einer Nation ist sicherlich das Recht auf Existenz. Niemand also – weder ein Staat noch eine andere Nation noch eine internationale Organisation – ist jemals zu der Ansicht berechtigt, daß eine einzelne Nation nicht wert sei zu existieren". Dieses Recht auf Existenz "schließt für jede Nation auch das Recht auf die eigene Sprache und Kultur ein, durch die ein Volk sich ausdrückt und die das fördern, was ich die ihm eigene geistige ‘Souveränität’ nennen möchte". Jede Nation, so fährt der Papst fort, hat auch "das Recht, ihr Leben nach den eigenen Überlieferungen zu gestalten" und "ihre eigene Zukunft aufzubauen und für eine angemessene Ausbildung ihrer jüngeren Generationen zu sorgen". Gerade durch die Anerkennung der Rechte der Nation kann dem "explodierenden Bedürfnis nach Identifikation und Überdauern" und nach "einer Art Gegengewicht gegen die Tendenz zur Vereinheitlichung" Rechnung getragen
werden.

Über die ethnisch-kulturelle Bedeutung der Nation erhebt sich schließlich das Vaterland, das mehr noch als ein corpus von Rechten als ein corpus von Pflichten begriffen werden muß, es zu behüten und zu verteidigen, selbst unter Hingabe von Gut und Leben. "Das Vaterland ist eine große kollektive Pflicht – un devoir collectif. Der Antrieb aber, diese Pflichten zu erfüllen, muß von innen kommen, aus dem Herzen, in dem das Heimatgefühl seinen Sitz hat.

Der Papst erinnerte in seiner Ansprache an die Tradition der Kirche, die Rechte der Nation zu verteidigen, so an das Konzil von Konstanz im 15. Jahrhundert, "als Vertreter der Krakauer Akademie, angeführt von Pawel Wlodkowic, mutig für die Rechte einiger europäischer Nationen auf Existenz und Unabhängigkeit eintraten. Noch bekannter ist die Diskussion über die Völker der Neuen Welt, zu der es in derselben Zeit an der Universität zu Salamanca kam. Was unser Jahrhundert betrifft, so kann ich nicht umhin, an die prophetischen Worte meines Vorgängers Benedikt XV. zu erinnern, der während des Ersten Weltkrieges allen ins Gedächtnis rief, daß ‘Nationen nicht sterben’, und dazu aufrief, ‘die Rechte und die berechtigten Bestrebungen der Völker gewissenhaft in Erwägung zu ziehen’".

Józef Tischner hat sicher recht, wenn er meint, der Papst habe mit seiner Ansprache vor der Generalversammlung der UNO über die Rechte der Nationen nicht bloß eine fundamentale Frage angeschnitten, sondern auch Denkanstöße geliefert, wie sie zu beantworten ist. Hier weiterzuarbeiten, wäre des Schweißes der Besten wert, besteht doch die Gefahr, daß die Nationen durch eine seit mehren Jahrzehnten systematisch verfolgte Politik ausgelöscht werden. Der Versuch, die Nation durch den grenzenlosen Markt zu ersetzen, ließ die "Globalisierungsfalle" zuschnappen und den Glauben an die Gestaltungsfähigkeit der Gesellschaft durch die Politik zerbrechen. Zunehmend wird heute begriffen, daß die Aufhebung der Grenzen die Gemeinschaft des Volkes, die Nation und das Vaterland zerstört. Dieser geradezu hochverräterischen Politik der die Macht ausübenden "Repräsentanten des Volkes" wirft sich der Papst mit seiner ganzen moralischen Autorität entgegen, er, der von sich sagen kann, "der Sohn einer Nation (zu sein), die die schrecklichsten geschichtlichen Prüfungen überstanden hat, die von ihren Nachbarn mehrfach zum Tode verurteilt wurde – und doch ist sie am Leben und sich selbst treu geblieben. Sie hat ihre Identität bewahrt, und sie hat während der Teilungen und Besatzungen ihre Souveränität als Nation bewahrt, gestützt auf keinerlei Mittel physischer Macht, sondern nur auf die eigene Kultur, die sich in diesem Fall als den anderen (Anm.: sie unterdrückenden) Mächten überlegen erwies". Die Botschaft des Papstes über die Rechte der Nationen sollte von uns Deutschen als ein Zeichen der Hoffnung für unser darniederliegendes Vaterland aufgenommen werden. Wer sie aufnimmt, wird sich zur vertieften Beschäftigung mit der Romantik und dem deutschen Idealismus veranlaßt sehen, in der auch das Denken des Papstes über die Nation und ihre Rechte seine Wurzeln hat. Nur die geistige Klarheit über das Wesen der Nation kann zu einer Politik der konsequenten Verfolgung ihrer Rechte führen. Das Mindeste allerdings, was heute schon politisch getan werden kann, ist die Verweigerung unserer Stimme für jene, die sich an der Integrität und Souveränität der Nation vergreifen.


 
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