© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/98 19. Juni 1998

 
 
Pankraz, Oskar Lafontaine und die geraden Pfade der Tugend

Jedesmal, wenn im laufenden Wahlkampf ein "konservativer" Politiker die "Werte" beschwört, die es wiederzuentdecken oder die es hochzuhalten gelte, gibt es Pankraz einen Stich, besonders wenn ausdrücklich von den "alten" Werten gesprochen wird, den "old values", wie es in Amerika heißt. Pankraz denkt dann automatisch daran, daß die "Alten", also die Politiker der Antike oder des Mittelalters, niemals von "Werten" sprachen, immer nur von "Tugenden", von "areté", von "virtus". Werte und Tugenden – das sind zwei völlig verschiedene Stiefel. Wer sie miteinander verwechselt, der befindet sich bereits auf der abschüssigen Bahn.

Der "Wert" ist ja gar keine moralische Kategorie, sondern eine ökonomische. Er stellt auf Marktgeschehen und auf Tauschhandel ab, er suggeriert, daß moralische Grundsätze gegen irgendetwas anderes eingetauscht bzw. mit Geld aufgewogen und gemessen werden könnten. Sein Ziel ist nicht das tugendhafte, gottgefällige Leben, sondern die sogenannte Nützlichkeit.

Die aktuelle "Wertediskussion", das Zetern über den "Verlust der Werte", dreht sich ausschließlich um die – wirkliche oder angebliche – Nützlichkeit der "Werte", also der Tugendhaftigkeit. Die "Werte", behaupten die einen, seien eine Art soziales Schmieröl, nützten letztlich jedem einzelnen, während die anderen sagen: "Was brauchen wir Werte? Wir haben doch Gesetze und eine Polizei, die über deren Einhaltung wacht. Soll also jeder sehen, wie er seinen Schnitt macht und zu seinem Spaß kommt und sich dabei nicht erwischen läßt. Beachtung der Werte, Tugendhaftigkeit, ist reine Trottelhaftigkeit."

Die ganze abendländische Tradition wird durch solche Diskussion preisgegeben. Völlig vergessen ist (und das spricht natürlich vor allem gegen die sich an der Diskussion beteiligenden "konservativen" Politiker), daß sich einst Sokrates geradezu den Mund fusselig geredet, sich buchstäblich um Kopf und Kragen gepredigt hat, um seinen Schülern beizubringen, daß die Tugend ihren Lohn in sich selber habe, daß keine andere Form von (vorgeblicher) Glückseligkeit diesen Lohn der Tugend, dies Anständigbleiben, diese Einhaltung des Sittengesetzes, je aufwiegen könne.

 

Vergessen ist auch Aristoteles, der lehrte, daß die Tugenden keineswegs nur einen praktischen Wert hätten, sondern auch und vor allem einen "dianoetischen", daß sie also vorrangig nicht auf Glück und Nützlichkeit ausgerichtet seien, sondern auf gesellschaftliche Balance, daß sie von Haus aus dazu verpflichteten, sich für das Gemeinwesen verantwortlich zu fühlen und nicht primär danach zu fragen: "Was bringt mir das?"

Tugenden sind keine Gesetze, das heißt, man wird nicht gezwungen, sich ihnen zu unterstellen, sie sind das Element der Freiheit im ethisch-moralischen Netzwerk. Aber nicht nur Aristoteles, sondern im Grunde alle ernsthaften Nachdenker und Politiker bis hin zu Kurt Schumacher und Konrad Adenauer waren sich darüber im Klaren, daß ein Gemeinwesen, das nur aus Gesetzen besteht und nicht auch aus praktizierter Tugend, à la longue zum Tode verurteilt ist, allmählich verfaulen muß.

Die Verwandlung der Tugenden in "Werte" durch die modernen Politiker verwischt diesen Tatbestand und erleichtert das Geschäft der Halunken und Dünnbrettbohrer. "Werte" sind viel leichter zu blamieren als Tugenden, weshalb ja auch Nietzsche wohlweislich nicht von der "Umwertung aller Tugenden", sondern von der "Umwertung aller Werte" sprach. Die Tugend (die "virtù", wie er renaissancehaft-italienisch sagte) wollte er nicht umwerten, weil sie, wie er genau wußte, gar nicht umgewertet werden kann.

Und sie kann nicht umgewertet werden, weil sie eben überhaupt nicht bewertet, überhaupt nicht in ein auswärtiges Wertesystem eingeordnet werden kann. Wenn der verstorbene Ernst Jünger in seinem Tagebuch "Siebzig verweht" darüber klagt, daß heutzutage allenthalben "Werte in Ziffern" verwandelt würden, so greift das zu kurz. Werte sind identisch mit Ziffern, behandeln Qualität als Quantität, machen sie flüssig und austauschbar. Bei der Tugend hingegen, der "virtù", ist das nicht der Fall. Entweder man hat sie, oder man hat sie nicht. Ein "bißchen" Tugend, ein Viertel oder ein Achtel, ist ebenso undenkbar wie ein Viertel oder ein Achtel Schwangerschaft.

 

Man kann die Tugend allenfalls, wie das Oskar Lafontaine in seiner berüchtigten Attacke auf den damaligen Bundeskanzler Schmidt getan hat, mit sich selbst vergleichen, sie in "Primär-" und "Sekundärtugenden" aufzuteilen versuchen. Aber auch dann gerät man schnell auf Holzwege. Eine "Sekundärtugend" wie etwa Ordnungsliebe, mit der sich – um das von Lafontaine gebrauchte Bild zu bemühen – "auch ein KZ leiten läßt", verliert durch solchen Vergleich nicht das geringste an Qualität, verstärkt sie im Gegenteil noch. Ohne Ordnungsliebe, so lernt man, läßt sich nicht einmal ein KZ leiten, wie dann ein anspruchsvolleres, freiheitlicheres Gemeinwesen.

Irgendwelche Lumpen, sagt Gottfried Kellers "Grüner Heinrich" an einer Stelle, werden sich immer heimlich die Hände reiben, wenn sie wahrnehmen, daß andere für sie korrekt und tugendhaft sind. Das ist aber kein Argument gegen die Tugenden, sondern höchstens gegen die Lumpen, die eben die Tugend nicht weniger nötig haben als die Anständigen und einzig auf deren Kosten über ihre eigenen miesen Runden kommen.

Unterm Strich bleibt die Einsicht, daß Wahlkämpfe sehr an Qualität gewinnen würden, wenn die Politiker, statt über "Werte" bzw. "old values" zu schwadronieren, fleißig die Pfade der Tugend suchten. Tugenden haben es an sich, daß sie gelebt, vorgelebt werden müssen, bloßes Predigen genügt nicht. "Schöne Rede schmückt das Zimmer", sagen die Chinesen, "Tugend schmückt den Leib." Oder weniger poetisch ausgedrückt: An ihren Taten sollt ihr sie erkennen.


 
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